Emil oder Ueber die Erziehung
sie dafür statt deiner gesehen. Wolken von Zeugen …. das Zeugniß ganzer Völker.
Der Vernünftler . Ist das Zeugniß ganzer Völker übernatürlicher Art?
Der Inspirirte . Nein, sobald es jedoch einstimmig ist, dann ist es unanfechtbar.
Der Vernünftler . Es gibt nichts Unanfechtbareres als die Grundsätze der Vernunft, und Menschenzeugniß vermag keine Ungereimtheit zu beglaubigen. Noch einmal: laß mich selbst übernatürliche Beweise sehen, denn das Zeugniß des Menschengeschlechtes kann ich nicht als einen solchen anerkennen.
Der Inspirirte . O du verhärtetes Herz! Die Gnade spricht noch nicht zu dir.
Der Vernünftler . Die Schuld liegt nicht an mir; denn deiner Lehre zufolge muß man die Gnade schon empfangen haben, um sie erbitten zu können. Rede du deshalb an ihrer Statt zuerst zu mir.
Der Inspirirte . Ach, das ist es ja, was ich thue, aber du willst auf mich nicht hören. Allein was denkst du über Weissagungen?
Der Vernünftler . Ich sage erstens, daß ich eben so wenig Weissagungen gehört, als Wunder gesehen habe, und ferner sage ich dir, daß ich keiner Weissagung eine Autorität beizulegen vermag.
Der Inspirirte . Diener des Teufels! Und weshalb willst du die Weissagungen nicht als Autorität gelten lassen?
Der Vernünftler . Weil dreierlei dazu nöthig wäre,das gleichzeitig unmöglich eintreten kann, nämlich: daß ich Zeuge der Weissagung gewesen wäre und eben so als Zeuge der Erfüllung derselben beiwohnte, und daß mir der Beweis geliefert würde, diese Erfüllung habe nicht das Ergebniß des Zufalls sein können; denn wäre die Weissagung auch bestimmter, klarer und lichtvoller als ein mathematischer Grundsatz, so würde streng genommen die etwa eintretende Erfüllung noch nichts für den beweisen, von dem die Weissagung ausgegangen ist, weil die Klarheit einer aufs Gerathewohl gemachten Vorhersagung ihre Erfüllung nicht unmöglich macht.
Siehe also, worauf deine angeblichen übernatürlichen Beweise, deine Wunder und deine Weissagungen hinauslaufen, lediglich darauf, dies Alles auf fremdes Zeugniß hin glauben zu müssen und die Autorität Gottes, der durch meine Vernunft zu mir redet, der Autorität der Menschen zu unterwerfen. Wenn die ewigen Wahrheiten, welche mein Geist begreift, irgend wie erschüttert werden könnten, so würde für mich keine Art von Gewißheit mehr existiren, und statt mich der sicheren Ueberzeugung hinzugeben, daß du im Namen Gottes zu mir redest, würde ich nicht einmal mehr die volle Gewißheit haben, ob es überhaupt ein göttliches Wesen gibt.
Da häufen sich also viele Schwierigkeiten auf, mein Sohn, und doch ist damit noch nicht Alles abgemacht. Unter der großen Menge von verschiedenen Religionen, die sich gegenseitig verfolgen und gegen einander abschließen, kann doch nur eine einzige die richtige sein, wenn es überhaupt eine solche gibt. Um diese herauszuerkennen, genügt es nicht, eine von ihnen zu prüfen, sondern man muß sie alle einer sorgfältigen Untersuchung unterziehen, und nach keiner Richtung hin darf man sich ein absprechendes Urtheil über die Gegenpartei erlauben, ehe man sie angehört hat. [36] Man muß die Einwürfe mit den Beweisenvergleichen, muß wissen, was Jeder den Anderen gegenüber für Einwendungen zu machen hat und was er ihnen antwortet. Je erwiesener uns eine Ansicht erscheint, desto gründlicher müssen wir zu erforschen suchen, worauf sich die große Anzahl der Gegner bei ihrer Verwerfung derselben stützt. Man müßte in der That sehr einfältig sein, wenn man sich dem Wahne hingeben wollte, es genügte, die Lehrer seiner eigenen Partei zu hören, um sich über die Gründe der Gegenpartei zu unterrichten. Wo sind die Theologen, die ihre Ehre in der ungeschminktesten Aufrichtigkeit suchen? Wo sind diejenigen, die nicht erst die Gründe ihrer Gegner abzuschwächen suchen, um sie desto leichter widerlegen zu können? Jeder glänzt in seiner Partei; aber wie einfältig würde sich Mancher, der sich in der Mitte seiner Anhänger mit seinen Beweisgründen bläht, mit den nämlichen Beweisen unter den Mitgliedern einer anderen Partei ausnehmen. Wollen Sie sich indeß aus Büchern unterrichten, welche Gelehrsamkeit müssen Sie sich dann erwerben! Wie viele Sprachen erlernen! Wie viele Bibliotheken durchblättern! Wie viel Zeit auf die Lectüre verwenden! Wer soll uns ferner bei der Auswahl leiten? Schwerlich wird man in einem Lande die besten Bücher der Gegenpartei vorfinden, geschweige denn die aller Parteien, und
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