Emil oder Ueber die Erziehung
träfe man sie auch an, so würden sie doch bald Widerlegung gefunden haben. Der Abwesende hat stets Unrecht, und schlechte, aber mit Sicherheit vorgetragene Gründe vernichten leicht die Wirkung guter, die in verächtlichem Tone mitgetheilt werden. Uebrigens geben gerade die Bücher nur zu häufig Veranlassung zu irrthümlichen Anschauungen, und nichts spiegelt die Meinung ihrer Verfasser weniger treu ab. Wenn Sie sich etwa nach demBuche von Bossuet [37] ein Urtheil über die katholische Religion haben bilden wollen, so werden Sie sich, nachdem Sie unter uns gelebt, davon überzeugt haben, daß Sie dadurch nicht zum Zwecke geführt wurden. Sie haben wahrgenommen, daß die Lehre, mit welcher man auf die Einwände der Protestanten antwortet, von derjenigen, in welcher man das Volk unterrichtet, abweicht, und daß Bossuet’s Werk keineswegs mit den von der Kanzel erschallenden Lehren Übereinstimmt. Um sich ein richtiges Urtheil über eine Religion zu bilden, muß man sie nicht aus den Büchern ihrer Bekenner studiren, sondern sie aus dem Verkehre mit denselben lernen. Dadurch erhält man einen sehr verschiedenen Eindruck. Jeder hat seine Traditionen, seine Ansichten, seine Gebräuche und Vorurtheile, in denen sich der eigentliche Charakter seines Glaubens ausspricht, und die es uns erst in ihrer Gesammtheit ermöglichen, diesen Glauben zu beurtheilen.
Wie viele große Völker drucken übrigens gar keine Bücher und lesen auch die unserigen nicht! Wie können sie im Stande sein, über unsere Ansichten zu urtheilen, und umgekehrt wieder wir über die ihrigen? Wir machen uns über sie lustig, sie aber schauen mit Verachtung auf uns herab, [38] und wenn unsere Reisenden sie lächerlich machen, so fehlt es ihnen, um uns Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nur an Reisenden unter uns. In welchem Lande gäbe es nicht vernünftige, aufrichtige, rechtschaffene, wahrheitsliebende Leute, die nur nach der Wahrheit suchen, um sich zu ihr zu bekennen? Jeder erblickt sie indeß in seinem Cultus und findet den Cultus der übrigen Nationen albern. Folglich können diese fremden Culte entweder nicht so wunderlich sein, als sie uns vorkommen, oder das Vernünftige, das wir in dem unserigen finden, kann noch nicht als Beweis gelten.
Wir haben in Europa drei Hauptreligionen. Die eine erkennt nur eine einzige Offenbarung an, die andere zwei, die dritte drei. Jede verabscheut, ja verflucht die beiden anderen und zeiht sie der Blindheit, der Verhärtung, der Halsstarrigkeit, der Lüge. Welcher unparteiische Mann wird sich auf das Wagniß einlassen, zwischen ihnen eine Entscheidung zu treffen, wenn er nicht vorher ihre Beweise genau erwogen, ihre Gründe sorgfältig angehört hat? Diejenige, welche nur eine Offenbarung gelten läßt, ist die älteste und scheint die sicherste zu sein; die, welche drei annimmt, ist die neueste und hat den Schein der größten Consequenz für sich; die endlich, welche nur zwei anerkennt und die dritte verwirft, kann füglich die beste sein, hat aber sicherlich alle Vorurtheile gegen sich; ihre Inconsequenz springt in die Augen.
Bei allen drei Offenbarungen sind die heiligen Urkunden in Sprachen geschrieben, die den Völkern, welche an sie glauben, unbekannt sind. Die Juden verstehen das Hebräische nicht mehr, die Christen verstehen weder Hebräisch noch Griechisch, die Türken und Perser verstehen kein Arabisch, und selbst die heutigen Araber reden die Sprache Muhameds nicht mehr. Ist es nicht eine höchst eigentümliche Art und Weise, die Menschen zu unterrichten, wenn man sich dabei stets einer Sprache bedient, die sie gar nicht verstehen? »Man übersetzt ja aber diese Schriften,« wird man mir einwenden. Schöne Antwort! Wer will die Bürgschaft dafür übernehmen, daß sie auch treu übersetzt sind, ja, daß eine treue Übersetzung überhaupt nur möglich ist? Und weshalb bedarf Gott, wenn er doch schon einmal so viel thut, daß er zu den Menschen redet, noch eines Dolmetschers?
Ich werde nie ein Verständniß dafür haben, daß das, was jeder Mensch zu wissen verpflichtet ist, in Büchern eingeschlossen sein soll, und daß derjenige, welcher weder über diese Bücher, noch über Leute, die sie verstehen, zu verfügen hat, um dieser unfreiwilligen Unwissenheit willen bestraft werden soll. Immer nur Bücher! Was für eine Sucht! Weil Europa voller Bücher ist, so betrachten die Europäer sie als unbedingt nothwendig, ohne Rücksichtdarauf zu nehmen, daß man auf drei Viertheilen des Erdbodens noch nie
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