Emil oder Ueber die Erziehung
aber, daß ich davon nichts vernommen habe? »Er hat anderen Menschen den Auftrag ertheilt, dir sein Wort zu verkündigen.« Ich verstehe: es sind Menschen, die mir mittheilen wollen, was Gott gesagt hat. Lieber hätte ich Gott doch selbst gehört; es wäre ihm dies nicht schwerer gewesen und ich hätte keine Täuschung zu fürchten brauchen. »Vor Täuschung sichert er dich, indem er die Sendung seiner Boten beglaubigt.« Und wodurch thut er dies? »Durch Wunder.« Und wo sind diese Wunder zu finden? »In Büchern.« Und wer hat diese Bücher geschrieben? »Menschen.« Wer aber hat diese Wunder gesehen? »Menschen, die sie bezeugen.« Wie, immer nur menschliche Zeugnisse! Immer nur Menschen, die mir berichten, was andere Menschen ihnen berichtet haben! Wie viele Menschen stehen zwischen Gott und mir! Laßt uns trotzdem sehen, prüfen, vergleichen, berichtigen. O, würde ich wol Gott, wenn es ihm gefallen hätte, mich mit all dieser anstrengenden Arbeit zu verschonen, weniger aufrichtig gedient haben?
Erwägen Sie, junger Freund, auf welche mühselige Untersuchung ich mich hiermit eingelassen habe, eine wie vielseitige Gelehrsamkeit dazu gehört, bis in das graueste Alterthum zurückzugehen, ferner die Weissagungen, die Offenbarungen, die Thatsachen, all die Denkmäler des Glaubens zu untersuchen, abzuwägen und gegen einander zu halten, und endlich Zeit, Ort, Urheber und begleitende Umstände zu bestimmen! Ein wie richtiges kritisches Urtheil ist mir nöthig, um Verbürgtes von Unverbürgtem zu unterscheiden, um die Einwürfe mit den Entgegnungen, die Übersetzungen mit den Originalen zu vergleichen; um mir über die Unparteilichkeit, die gesunde Vernunft und dieEinsicht der Zeugen ein festes Urtheil zu bilden; um mich zu überzeugen, ob dieselben nichts unterdrückt, nichts hinzugefügt, nichts an eine unrichtige Stelle gesetzt, geändert oder gefälscht haben; um die noch bleibenden Widersprüche zu lösen; um zu beurtheilen, welches Gewicht das Schweigen der Gegner bei den gegen sie vorgebrachten Thatsachen verdient, ob ihnen die angeführten Gründe bekannt geworden sind, ob sie es der Mühe werth erachtet haben, dieselben einer Antwort zu würdigen; ob die Bücher eine so allgemeine Verbreitung gefunden hatten, daß sich annehmen läßt, die bis auf unsere Zeit erhaltenen seien auch zu ihnen gelangt; ob wir ehrlich genug gewesen sind, der Verbreitung der ihrigen unter uns kein Hinderniß entgegen zu stellen und ihre erheblichsten Bedenken so zu lassen, wie sie dieselben ausgesprochen haben.
Sobald nun die unbestreitbare Glaubwürdigkeit aller dieser schriftlichen Zeugnisse anerkannt ist, so muß ferner noch der Beweis für die Mission ihrer Urheber geliefert werden. Man muß die Gesetze der Schicksale, muß die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten genau kennen, um zu beurtheilen, welche Weissagungen nicht ohne Wunder in Erfüllung gehen können, muß den Geist der Ursprachen erfaßt haben, um zu unterscheiden, was in diesen Sprachen wirkliche Weissagung oder nur rethorische Figur ist; muß wissen, welche Thatsachen mit der Ordnung der Natur in Einklang stehen und welche gegen dieselbe verstoßen, um zu erklären, bis zu welchem Punkte ein geschickter Mensch die Augen der Einfältigen zu blenden und sogar Aufgeklärte in Erstaunen zu setzen vermag. Man muß untersuchen, welcher Art ein Wunder sein und welche Glaubwürdigkeit es haben muß, wenn es nicht allein Glauben verdienen, sondern sogar jeder Zweifel daran als strafwürdig erscheinen soll. Man muß die Beweise für die wahren und die falschen Wunder mit einander vergleichen und sichere Regeln für ihre Unterscheidung aufstellen, muß endlich den Nachweis führen, weshalb Gott zur Bekräftigung seines Wortes Mittel gewählt hat, welche selbst in so hohem Grade der Bekräftigung bedürfen, als ob er die Leichtgläubigkeit der Menschen verspottenwolle und die wahren Mittel, sie zu überzeugen, absichtlich vermiede.
Angenommen, es gefiele der göttlichen Majestät, sich so weit herabzulassen, einen Menschen zum Organe seines heiligen Willens zu machen. Ist es aber wol vernünftig, ist es gerecht, zu verlangen, daß die ganze Menschheit der Stimme dieses Dieners gehorche, ohne daß er derselben in dieser Eigenschaft unzweideutig bekannt gemacht ist? Liegt Billigkeit darin, ihn zu seiner Beglaubigung nur mit einigen besonderen Wundern auszurüsten, die vor wenigen unbekannten Leuten verrichtet wurden, während alle übrige Menschen nur durch Hörensagen
Weitere Kostenlose Bücher