Emil oder Ueber die Erziehung
dergleichen gesehen hat. Sind nicht alle Bücher von Menschen geschrieben worden? In wie fern sollte der Mensch nun ihrer erst bedürfen, um seine Pflichten kennen zu lernen? Und durch welche Mittel lernte er sie vor Abfassung jener Bücher kennen? Entweder schöpft er die Kenntniß seiner Pflichten aus sich selbst, oder ist von der Kenntniß derselben entbunden.
Unsere Katholiken betonen vor Allem die Autorität der Kirche. Was gewinnen sie indeß damit, wenn sie zur Feststellung dieser Autorität eines eben so großen Aufwandes von Beweisen bedürfen, als die anderen Confessionen zur unmittelbaren Begründung ihrer Lehre nöthig haben? Die Kirche entscheidet, daß der Kirche das Entscheidungsrecht zusteht. Ist das nicht eine außerordentlich fein erwiesene Autorität? Bleiben Sie dabei nicht stehen, sondern kehren Sie zu unseren Erörterungen zurück.
Kennen Sie viele Christen, welche sich die Mühe gegeben haben, das, was das Judenthum gegen sie vorbringt, einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen? Wenn Einigen davon etwas bekannt geworden ist, so haben sie es in den Büchern der Christen gelesen. Eine herrliche Art und Weise, sich über die Gründe ihrer Gegner zu unterrichten! Allein was läßt sich da anfangen? Wollte irgend Jemand das Wagestück unternehmen, unter uns Schriften zu veröffentlichen, in denen das Judenthum offene Begünstigung fände, [39] so würden wir Verfasser, Herausgeber und Buchdrucker zur Strafe ziehen. Dieses polizeiliche Verfahren ist bequem und sicher, um stets Recht zu haben. Es muß in der That ein Vergnügen sein, Leute zu widerlegen, die nicht zu sprechen wagen. [40]
Denjenigen unter uns, welchen Gelegenheit gegeben ist, mit Juden Umgang zu pflegen, ist damit nicht viel mehr geholfen. Die Unglücklichen trafen nur zu sehr das Gefühl in sich, daß sie in vollständiger Abhängigkeit von uns leben. Die Tyrannei, welche man gegen sie ausübt, macht sie furchtsam; sie wissen, wie schnell die christliche Liebe zu Mitteln der Ungerechtigkeit und Grausamkeit ihre Zuflucht nimmt. Was können sie sich wol zu sagen unterfangen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, von uns der Gotteslästerung geziehen zu werden? Die Habgier stachelt unsern Eifer an, und sie sind viel zu reich, um nicht Unrecht zu bekommen. Die Gelehrtesten und Aufgeklärtesten zeigen auch stets die größte Vorsicht. Es wird vielleicht gelingen, irgend einen Elenden zu bekehren, der sich dafür bezahlen läßt, seine Glaubensgenossen zu verleumden; man wird vielleicht mit einigen feilen Trödlern ein Gespräch anknüpfen können, die aus Schmeichelei den Nachgiebigen spielen werden; man wird über ihre Unwissenheit oder ihre Gemeinheit einen Triumph feiern, während ihre gelehrten Glaubensgenossen im Stillen diese Thorheit belächeln werden. Läßt sich aber deshalb annehmen, daß sie an Orten, wo sie sich in Sicherheit fühlten, ihren Gegnern eben so leichtes Spiel einräumen würden? In der Sorbonne ist es so klar wie der Tag, daß sich die messianischen Weissagungen auf Jesum Christum beziehen. Bei den Rabbinern in Amsterdam gilt es für ganz eben so klar, daß sie nicht den geringsten Bezug auf ihn haben. Ich werde mir nie eine vollständige Kenntniß der Gründe der Juden zutrauen, so lange sie nicht einen freien Staat, nicht Schulen und Universitäten haben, in denen sie ohne Gefahr reden und disputiren können. Dann erst sind wir zu erfahren im Stande, was sie zu sagen haben.
In Constantinopel sprechen sich die Türken über ihre Gründe aus, während wir die unserigen nicht vorzubringen wagen. Dort müssen wir uns demüthigen. Habennun die Türken Unrecht, wenn sie von uns verlangen, wir sollen Muhamed, an den wir nicht glauben, dieselbe Ehrfurcht erweisen, die wir von den Juden Christo gegenüber begehren, an den sie eben so wenig glauben? Oder ist das Recht auf unserer Seite? Nach welchem Grundsatze der Gerechtigkeit müssen wir diese Frage entscheiden?
Zwei Drittheile der Menschheit gehören weder zu den Juden, noch zu den Muhamedanern, noch zu den Christen, und wie viele Millionen Menschen haben von Moses, Jesus Christus oder Muhamed nie etwas gehört! Allerdings stellt man dies in Abrede; man stellt die Behauptung auf, daß unsere Missionäre überall hinkämen. Das ist bald gesagt! Haben sie aber wirklich schon das bisher noch ganz unbekannte Innere Afrikas durchwandert, in welches bis jetzt noch nie ein Europäer gedrungen ist? Gelangen sie bis in die innere Tartarei, und begleiten sie zu Pferde die
Weitere Kostenlose Bücher