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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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denn nicht begreifen, daß ich, ehe ich der Schrift, welche ihr die heilige nennt, und deren Inhalt mir unverständlich ist, Glauben zu schenken vermag, erst noch von Anderen als euch erfahren muß, wann und von wem sie verfaßt, wie sie erhalten und zu euch gelangt ist, und durch was für Gründe sich die Bewohner dieses Landes selbst zur Verwerfung derselben haben bestimmen lassen, obwol sie Alles, was ihr mich lehrt, eben so gut wissen als ihr? Euer eigenes Gefühl wird euch sagen, daß ich nothwendigerweise nach Europa, nach Asien, nach Palästina gehen müßte, um Alles selbst zu prüfen; ich müßte ein offenbarer Narr sein, wollte ich euch vorher Gehör schenken.
    Diese Erklärung erscheint mir nicht nur sehr vernünftig, sondern ich behaupte auch geradezu, daß jeder vernünftige Mensch in ähnlichem Falle eben so sprechen und den Missionär, der sich vor Bestätigung seiner Beweisquellen zu lehren und zu taufen beeilte, kurz abweisen müßte. Nun behaupte ich aber, daß es keine Offenbarung gibt, gegen welche sich nicht diese oder ähnliche Einwürfe [42] von eben so viel oder noch von größerer Kraft als gegen das Christentum erheben ließen. Daraus folgt, daß man, wenn es nur eine wahre Religion gäbe, und jeder Mensch sich bei Strafe der Verdammniß zu ihr bekennen müßte, sich genöthigt sähe, sein ganzes Leben nur damit hinzubringen, sie alle zu studiren, sich in alle zu vertiefen, sie unter einander zu vergleichen und die Länder zu durchreisen, in denen sie ausgeübt werden. Niemand ist von dieser ersten Menschenpflicht entbunden, Niemand hat die Berechtigung, sich auf fremdes Urtheil zu verlassen. Der Handwerker, der nur vom Ertrage seiner Arbeit lebt, der Landmann, der nicht lesen kann, das zarte und schüchterne junge Mädchen, der Sieche, der sich nur mit Mühe von seinem Bette zu erheben vermag, sie Alle ohne Ausnahme müßten studiren, nachdenken, disputiren, reisen, die Welt durchpilgern. Es würde kein fest ansässiges Volk mehr geben. Die ganze Erde würde mit Pilgern bedeckt sein, die unter großen Kosten und langwierigen Mühseligkeiten die Welt durchirrten, um selbst die verschiedenen Religionen, zu denen man sich bekennt, zu untersuchen, zu vergleichen und zu prüfen. Dann gute Nacht, ihr Handwerke, Künste, menschliche Wissenschaften und alle bürgerliche Beschäftigungen! Dann könnte es kein anderes Studium mehr als das der Religion geben. Mit genauer Noth würde derjenige, welcher sich der festesten Gesundheit zu erfreuen gehabt, seine Zeit am besten ausgekauft, von seiner Vernunft den besten Gebrauch gemacht und am längsten gelebt hätte, in seinem Greisenalter wissen, woran er sich zu halten hätte; undes würde schon sehr viel sein, wenn er noch vor seinem Tode lernte, in welcher Religion er hätte leben sollen.
    Wollen Sie diese Methode mildern und der menschlichen Autorität auch nur den geringsten Spielraum lassen, so räumen Sie ihr damit augenblicklich Alles ein. Wenn der Sohn eines Christen wohl daran thut, sich ohne vorhergehende tiefe und unparteiische Prüfung zu der Religion seines Vaters zu halten, weshalb sollte dann der Sohn eines Türken dadurch ein Unrecht begehen, daß er sich ebenfalls zu der Religion seines Vaters [43] bekennt? Ich fordere alle Intoleranten auf, mir darauf irgend eine Antwort zu ertheilen, die im Stande ist, einen vernünftigen Menschen zu befriedigen.
    Durch diese Gründe in die Enge getrieben, wollen Einige Gott lieber ungerecht erscheinen und ihn die Unschuldigen um der Sünden ihrer Väter willen bestrafen lassen, als daß sie ihr barbarisches Dogma aufgeben. Andere suchen sich dadurch aus der Verlegenheit zu ziehen, daß sie zuvorkommenderweise einen Engel senden, um Jeden zu unterrichten, der trotz seiner unüberwindbaren Unwissenheit doch einen sittlich guten Lebenswandel geführt hätte. Eine herrliche Erfindung, dieser Engel! Nicht zufrieden damit, uns ihren Maschinerien zu unterwerfen, versetzen sie sogar Gott in die Nothwendigkeit, dergleichen in Anwendung zu bringen.
    Erkennen Sie daran, mein Sohn, bis zu welcher Ungereimtheit Stolz und Intoleranz führen, wenn Jeder auf seinem Kopfe bestehen will und der ganzen übrigen Menschheit gegenüber allein Recht zu haben glaubt. Ich nehme den Gott des Friedens, welchen ich anbete und Ihnen verkündige, zum Zeugen, daß alle meine Forschungen aufrichtig gewesen sind; als ich mich jedoch davon überzeugte, daß sie erfolglos waren und stets bleiben würden, und daß ich mich gleichsam auf

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