Emil oder Ueber die Erziehung
umherschweifenden Horden, denen sich nie ein Fremder zu nahen wagt, und die kaum den Groß-Lama kennen, geschweige denn, daß sie je etwas vom Papste gehört hätten? Durchziehen sie die unermeßlichen Binnenländer Amerikas, wo ganze Stämme noch nicht einmal wissen, daß Völker aus einem fremden Welttheile den Fuß in den ihrigen gesetzt haben? Betreten sie Japan, aus welchem ihre Ränke sie für immer verbannt haben, und wo ihre Vorgänger den folgenden Geschlechtern nur als schlaue Ränkeschmiede bekannt sind, die sich mit scheinheiligem Eifer eingenistet hatten, um sich unvermerkt der Herrschaft zu bemächtigen? Können sie sich die Harems der asiatischen Fürsten erschließen, um Tausenden von armen Sklaven das Evangelium zu verkündigen? Was haben die Frauen in jenem Welttheile begangen, daß kein Missionär im Stande ist, ihnen den Glauben zu predigen? Werden sie deshalb Alle in die Hölle hinabgestoßen werden, weil sie hier hinter Schloß und Riegel gehalten worden sind?
Und wenn es selbst wahr wäre, daß das Evangelium auf der ganzen Erde verkündigt würde, was würde man damit gewinnen? Den Tag vor der Ankunft des ersten Missionärs in einem Lande ist sicherlich irgend Jemandgestorben, der seine Predigt nicht mehr zu hören vermochte. Was in aller Welt sollen wir nun mit diesem Einen anfangen? Ja, fände sich auf der ganzen Erde nur ein einziger Mensch, welchem man nie Jesum Christum gepredigt hätte, so würde doch der Einwurf hinsichtlich dieses Einen nicht weniger zutreffend sein, als wenn es sich um ein Viertel der ganzen Menschheit handelte.
Was haben die Diener des Evangeliums, wenn sie unter fremden Völkern ihr Lehramt begannen, denselben gesagt, das man vernünftigerweise auf ihr bloßes Wort hin annehmen könnte und das nicht erst die genaueste Untersuchung verlangte? Ihr verkündet mir einen Gott, der vor zweitausend Jahren am andern Ende der Welt in irgend einer kleinen Stadt geboren und gestorben ist, und behauptet, daß Alle, die nicht an dieses Geheimniß glauben, verdammt werden würden. Das klingt doch allzu wunderlich, um auf die bloße Autorität eines mir unbekannten Menschen hin Glauben zu verdienen. Weshalb hat euer Gott die Ereignisse, zu deren Kenntniß er mich verpflichten will, auf einem so weit entlegenen Schauplatze eintreten lassen? Kann es als Verbrechen angerechnet werden, das nicht zu wissen, was bei den Antipoden vor sich geht? Kann ich errathen, daß es auf der anderen Halbkugel ein hebräisches Volk und eine Stadt Jerusalem gegeben hat? Mit demselben Fug und Recht könnte man mir die Verpflichtung auferlegen, zu wissen, was sich auf dem Monde zuträgt. Ihr kommt, wie ihr vorgebt, mich darüber zu belehren; allein weshalb seid ihr nicht gekommen, meinem Vater schon diese Kunde zu bringen? Oder weshalb verdammt ihr diesen rechtschaffenen Greis um deswillen, daß er nichts davon erfahren hat? Soll er eurer Trägheit zu Liebe ewig bestraft werden, er, der so gut, so wohlthätig war und nur die Wahrheit suchte? Seid aufrichtig und setzt euch einmal an meine Stelle! Saget selbst, ob man von mir wol verlangen kann, auf euer alleiniges Zeugniß hin alle die unglaublichen Dinge, die ihr mir berichtet, zu glauben, und ob eine so große Reihe von Ungerechtigkeiten mit dem gerechten Gotte, den ihr mir verkündet, vereinbar ist? Laßt mich doch erst,wenn ich bitten darf, jenes weit entlegene Land [41] n. besuchen, wo sich so viele in meinem Vaterlande unerhörte Wunderdinge ereignen. Ich möchte doch in Erfahrung bringen, weshalb die Einwohner jenes Jerusalems Gott wie einen Missethäter behandelt haben. Sie haben ihn, wendet ihr mir ein, eben nicht als Gott erkannt. Was soll denn ich nun aber thun, ich, der ich, außer von euch, niemals etwas von ihm vernommen habe? Ihr füget freilich hinzu, sie seien dafür bestraft, zerstreut, unterdrückt, unterjocht worden; keiner von ihnen nahe sich mehr dieser Stadt. Unläugbar haben sie das Alles wohl verdient; was sagen indeß die heutigen Bewohner zu dem Gottesmorde ihrer Vorfahren? Auch sie läugnen seine Gottheit, sie erkennen Gott eben so wenig als Gott an. Wäre es dann nicht eben so gut gewesen, die Nachkommen der ersten Bewohner dort zu lassen?
Wie, in der nämlichen Stadt, in welcher Gott gestorben ist, haben ihn weder die alten noch die gegenwärtigen Einwohner anerkannt, und trotzdem verlangt ihr, daß ich, der ich zweitausend Jahre später und zweitausend Meilen davon entfernt geboren bin, ihn anerkennen soll? Könnt ihr
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