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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Sophist gewesen sei. Er erfand, wie man sagt, die Moral; Andere hatten sie jedoch schon vor ihm ausgeübt. Er sprach nur aus, was sie gethan hatten, und zog aus ihren Beispielen nur die Lehren. Aristides war gerecht gewesen, ehe Sokrates den Begriff der Gerechtigkeit definirt hatte; Leonidas war für sein Vaterland gestorben, ehe Sokrates die Vaterlandsliebe zur Pflicht gemacht hatte; Sparta war nüchtern, ehe Sokrates die Nüchternheit gepriesen hatte, und ehe er den Begriff der Tugend festgestellt, besaß Griechenland einen Ueberfluß an tugendhaften Menschen. Aber woher hatte Jesus unter den Seinigen diese erhabene und reine Moral genommen, zu der er allein sie durch Lehre und Vorbild anzuhalten suchte? [48] Aus dem Schooße des gewaltigsten Fanatismus heraus ließ sich die höchste Weisheit vernehmen, und die Einfachheit der heldenmütigsten Tugenden ehrte das verächtlichste aller Völker. Der Tod des Sokrates, welcher eintrat, während er ruhig mit seinen Freunden philosophirte, ist der süßeste, den man sich nur wünschen kann. Der Tod Jesu dagegen, der unter Martern, geschmäht, verspottet und von seinem ganzen Volke verflucht, seinen Geist aufgab, ist der entsetzlichste, den manfürchten kann. Sokrates segnet, während er den Giftbecher ergreift, den Gefangenwärter, welcher ihm denselben unter Thränen darreicht. Jesus betet unter den furchtbarsten Todesqualen für seine entmenschten Henker. Ja, wenn des Sokrates Leben und Tod eines Weisen würdig sind, so erkennen wir bei Christo das Leben und den Tod eines Gottes. Sollen wir nun etwa die evangelische Geschichte für eine willkürliche Erdichtung ausgeben? Mein Freund, so vermag man nicht zu dichten; und die Züge aus dem Leben des Sokrates, die Niemand bezweifelt, sind weniger beglaubigt als die Thaten Jesu Christi. Im Grunde genommen hieße dies auch nur die Augen vor den Schwierigkeiten verschließen, anstatt sie völlig aus dem Wege zu räumen. Daß mehrere Menschen [49] mit einander dies Buch in freier Dichtung und unter gegenseitiger Übereinstimmung verfaßt haben sollten, würde noch viel unbegreiflicher sein, als daß ein einziger Mensch den Stoff dazu geliefert hat. Nie wären jüdische Schriftsteller im Stande gewesen, diesen Ton anzuschlagen oder diese Moral aufzustellen, und das Evangelium enthält so große, so auffallende, so völlig unnachahmliche Kennzeichen der Wahrheit, daß der Verfasser einer solchen Dichtung in noch weit höherem Grade unsere Bewunderung verdienen würde, als der Held selbst. Trotz alledem ist dies Evangelium auch voll unglaublicher Dinge, voll solcher Dinge, die der Vernunft widerstreiten und die ein vernünftiger Mensch unmöglich zu begreifen und anzunehmen vermag. Was nun thun inmitten aller dieser Widersprüche? Stets bescheiden und bedachtsam sein, mein Sohn; schweigend in Ehren halten, was man weder verwerfen noch begreifen kann, und sich in Demuth vor dem großen Wesen beugen, welches allein die Wahrheit kennt.
    Das ist der unfreiwillige Skepticismus, auf welchem ich stehen geblieben bin; indeß berührt mich dieser Skepticismus keineswegs peinlich, weil er sich nicht auf solchePunkte erstreckt, die auf das Handeln bestimmend einwirken, und weil ich über die Principien aller meiner Pflichten durchaus entschieden bin. Ich diene Gott in der Einfalt meines Herzens. Ich suche nur das zu erfahren, was mir in Bezug auf meinen Wandel von Wichtigkeit ist. Was nun aber jene Dogmen anlangt, die weder auf mein Handeln noch auf die Sittlichkeit Einfluß ausüben, und um deren willen sich so viele Menschen Sorgen machen, so fühle ich mich ihretwegen nicht im Geringsten beunruhigt. Ich erblicke in allen einzelnen Religionen eben so viele Heilsanstalten, welche in jedem Lande eine gleichförmige Art öffentlicher Gottesverehrung vorschreiben, und welche alle im Klima, in der Regierungsform, im Volksgeist oder in sonst einer localen Ursache wurzeln können, so daß der Vorzug, welchen eine vor den anderen hat, lediglich nach Zeit und Ort zu bemessen ist. Ich halte sie, falls man Gott in ihnen nur in angemessener Weise dient, alle für gut. Das Wesen des Gottesdienstes beruht auf dem Dienste des Herzens. Gott verwirft keine Huldigung, wenn sie aufrichtig ist, unter welcher Form sie ihm auch dargebracht wird. In der Religion, zu welcher ich mich bekenne, zum Dienste der Kirche berufen, erfülle ich die mir auferlegten Obliegenheiten mit größtmöglicher Pünktlichkeit, und mein Gewissen würde mir Vorwürfe machen, wenn ich

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