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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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mir wissentlich in irgend einem Punkte eine Pflichtvergessenheit zu Schulden kommen ließe. Es ist Ihnen bekannt, daß ich nach längerem Kirchenbann durch Vermittelung des Herrn von Mellarede endlich die Erlaubniß erhielt, meine amtlichen Functionen wieder aufzunehmen, um mein Leben fristen zu können. Früher las ich die Messe mit jener Gleichgültigkeit, in die man mit der Zeit auch bei den ernstesten Handlungen verfällt, sobald man sie zu oft verrichtet. Seit Annahme meiner jetzigen Grundsätze halte ich das Hochamt mit weit höherer Ehrfurcht ab; ich fühle mich durchdrungen von der Majestät des höchsten Wesens, von seiner Gegenwart und von der Unzulänglichkeit des menschlichen Verstandes, der nur in so geringem Grade zu begreifen vermag, was sich auf seinen Schöpfer bezieht. Indem ich mir dessen bewußt bin, daß ich ihm unter einervorgeschriebenen Form die Gelübde des Volkes darbringe, halte ich alle Gebräuche auf das Strengste inne; ich lese mit Aufmerksamkeit, ich lasse es mir angelegen sein, nie auch nur das geringste Wort oder die geringste Ceremonie zu übersehen. Wenn ich mich dem Augenblicke der Consecration nähere, so sammle ich mich erst, um sie in der andächtigen Stimmung vornehmen zu können, welche die Kirche und die Heiligkeit des Sacramentes erheischen. Ich bemühe mich, meine Vernunft vor der höchsten Vernunft zum Schweigen zu bringen; ich sage mir: Wer bist du, daß du dich unterfangen könntest, die unendliche Macht zu ermessen? Mit Ehrfurcht spreche ich die Einsetzungsworte und lege ihrer Wirkung all den Glauben bei, der in meinem Herzen wohnt. So viel Unbegreifliches auch immer an diesem Geheimnisse sein mag, so hege ich gleichwol keine Besorgniß, am Tage des Gerichts dafür bestraft zu werden, daß ich es je in meinem Herzen entweiht habe.
    Beehrt mit diesem heiligen Amte, wenn auch nur auf der untersten Rangstufe, werde ich nie etwas thun oder sagen, was mich unwürdig machen könnte, die erhabenen Pflichten desselben zu erfüllen. Ich werde den Menschen beständig die Tugend predigen, ich werde sie beständig ermahnen, Gutes zu thun, und ihnen, so weit es in meinen Kräften steht, mit einem guten Beispiele vorangehen. Es wird nicht an mir liegen, wenn ich ihnen nicht Liebe zur Religion einflöße, nicht an mir liegen, wenn ihr Glaube an die Dogmen, die wahrhaft nützlich sind und die jeder Mensch zu glauben verpflichtet ist, nicht befestigt wird: aber da sei Gott vor, daß ich ihnen je das grausame Gesetz der Intoleranz predige, daß ich sie je antreibe, ihren Nächsten zu verabscheuen und zu anderen Menschen zu sagen: »Ihr werdet verdammt werden«, zu sagen: »Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil!« [50] Wäre ich mit einem höherenRange bekleidet, so könnte mir diese Zurückhaltung allerdings Verdrießlichkeiten bereiten, so aber bin ich zu unbedeutend, um viel befürchten zu müssen, und ich kann nicht leicht zu einer noch tieferen Stufe herabsinken, als ich einnehme. Was aber auch immer geschehen möge, so werde ich mich doch in meinen Reden nie gegen die göttliche Gerechtigkeit vergehen und nie wider den heiligen Geist lügen.
    Ich habe lange sehnlich gewünscht, Pfarrer zu werden; ich wünsche es noch immer, hoffe aber nicht mehr darauf. Mein lieber Freund, ich kann mir nichts Schöneres als den Beruf eines Pfarrers denken. Ein guter Pfarrer ist ein Diener der Güte, wie eine gute Obrigkeit eine Dienerin der Gerechtigkeit ist. Ein Pfarrer hat nie etwas Böses zu thun; vermag er das Gute auch nicht immer selbst zu thun, so wird er doch keine Gelegenheit vorübergehen lassen, dazu aufzufordern, und versteht er sich Achtung zu verschaffen, so setzt er es auch oft durch. Ach, wie glücklich würde ich sein, wenn mir je die Verwesung einer armen Pfarrei bei guten Leuten in unserem Gebirge übertragen würde, denn ich glaube, es würde zum Glücke meiner Pfarrkinder ausfallen. Reichthum würde ich ihnen zwar nicht verleihen können, aber ihre Armuth würde ich mit ihnen theilen; ich würde dieselbe von der ihr anklebenden Schande und Verachtung frei machen, die noch unerträglicher sind als der Mangel selbst. Ich würde sie Eintracht und Gleichheit lieben lehren, die das Elend oft verscheuchen und es wenigstens immer erträglich machen. Wenn sie bemerken würden, daß ich in nichts besser daran wäre als sie und trotzdem zufrieden lebte, so würden sie sich in ihr Schicksal finden und in gleicher Zufriedenheit wie ich leben lernen. Bei meinen Belehrungen würde ich mich

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