Emil oder Ueber die Erziehung
weniger an den Geist der Kirche als an den Geist des Evangeliums halten, dessen dogmatischer Gehalt einfach, dessen Moral erhaben ist und dessen Inhalt uns nurmit wenigen religiösen Gebräuchen, aber dafür mit desto mehr Werken der Liebe bekannt macht. Ehe ich sie lehrte, was man thun müsse, würde ich mich bemühen, es ihnen an meinem Beispiele zu zeigen, damit sie zur Einsicht gelangten, daß meine Werke mit meinen Worten in Einklang ständen. Lebten in meiner Nachbarschaft oder in meiner Parochie Protestanten, so würde ich bei allen Werken der christlichen Barmherzigkeit zwischen ihnen und meinen wirklichen Pfarrkindern keinen Unterschied machen. Ich würde sie Alle ohne Unterschied anhalten, sich unter einander zu lieben, sich als Brüder zu betrachten, alle Religionen zu achten und Jeder in der seinigen in Frieden zu leben. In Jemanden dringen, die Religion, in der er geboren ist, zu verlassen, heißt meinem Bedünken nach ihn auffordern, ein Unrecht zu begehen, und folglich selbst Unrecht thun. Bis wir indeß höherer Einsichten theilhaftig werden, wollen wir die öffentliche Ordnung bewahren, in allen Ländern die Gesetze achten, die Gottesverehrung, die sie uns vorschreiben, nicht stören und die Bürger nicht zum Ungehorsam verleiten; denn wir wissen keineswegs mit Sicherheit, ob es für sie ein Glück wäre, sich von ihren Ansichten loszusagen, um andere gegen sie einzutauschen; nur das wissen wir mit aller Sicherheit, daß es ein Unrecht ist, den Gesetzen nicht zu gehorchen.
Ich habe Ihnen hiermit, mein junger Freund, mein Glaubensbekenntnis mündlich so abgelegt, wie es Gott in meinem Herzen liest. Sie sind der Erste, den ich habe in mein Herz blicken lassen und werden vielleicht auch der Einzige bleiben. So lange es noch einen festen Glauben unter den Menschen gibt, darf man friedliche Seelen nicht beunruhigen, noch den Glauben der Einfältigen durch Schwierigkeiten erschüttern, die sie nicht aus dem Wege zu räumen vermögen, und die sie beunruhigen, ohne ihnen Aufklärung zu geben. Wenn aber erst einmal Alles schwankend geworden ist, muß man den Stamm auf Kosten der Zweige erhalten. Aufgeregte, unsichere, fast eingeschlummerte Gewissen, und solche, die sich in einem ähnlichen Zustande wie das Ihrige befinden, bedürfen der Stärkung und Erweckung; und um sie wieder auf denGrund der ewigen Wahrheit zu stellen, muß man die wankenden Pfeiler, an denen sie noch eine Stütze zu haben glauben, vollends einreißen.
Sie stehen jetzt in dem entscheidenden Alter, in welchem sich der Geist öffnet, um endlich Gewißheit zu erlangen, in welchem das Herz seine Form und seinen Charakter erhält, und man sich für das ganze Leben, sei es zum Guten oder zum Bösen, entscheidet. Später ist unser Wesen bereits härter geworden, und neue Eindrücke lassen keine Spuren mehr zurück. Junger Mann, lassen Sie Ihrer jetzt noch geschmeidigen Seele das Gepräge der Wahrheit aufdrücken! Wenn ich meiner selbst sicherer wäre, würde ich Ihnen gegenüber einen dogmatischen und keinen Widerspruch zulassenden Ton angeschlagen haben. Aber ich bin ein Mensch, bin unwissend und dem Irrthume unterworfen. Was konnte ich also thun? Ich habe Ihnen mein Herz rückhaltlos geöffnet; was ich für gewiß halte, habe ich Ihnen so dargestellt; meine Zweifel habe ich Ihnen als Zweifel, meine Ansichten als Ansichten zu erkennen gegeben. Ich habe Ihnen weder die Gründe meines Zweifelns noch meines Glaubens verhehlt. Jetzt tritt an Sie die Aufgabe zu urtheilen heran. Sie haben sich Zeit genommen; diese Vorsicht ist weise und flößt mir eine gute Meinung von Ihnen ein. Lassen Sie es Ihr Erstes sein, Ihr Gewissen in den Zustand zu versetzen, in dem es sich nach Aufklärung sehnt. Seien Sie aufrichtig gegen sich selbst. Eignen Sie sich von meinen Ansichten dasjenige an, wovon Sie sich überzeugt halten; das Uebrige aber verwerfen Sie. Bis jetzt sind Sie durch das Laster noch nicht in so hohem Grade verderbt, daß Sie Gefahr liefen, eine schlechte Wahl zu treffen. Ich würde Ihnen den Vorschlag machen, daß wir uns darüber mit einander beriethen, wenn man sich nicht beim Disputiren sofort erhitzte. Eitelkeit und Eigensinn mischen sich ein, und mit der Aufrichtigkeit ist es dann vorbei. Mein Freund, disputiren Sie niemals, denn durch bloßes Disputiren klärt man weder sich selbst noch Andere auf. Ich für meinen Theil habe erst nach jahrelangem Nachdenken meine Ueberzeugung gewonnen. An ihr halte ich nun fest; mein Gewissen istruhig, mein
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