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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ein uferloses Meerhinausgewagt hatte, so bin ich wieder umgekehrt und habe meinen Glauben auf meine ursprünglichen Ideen beschränkt. Ich habe mich niemals dem Glauben hingeben können, daß mir Gott wirklich unter Androhung der Höllenstrafe beföhle, so gelehrt zu sein. Aus dem Grunde habe ich denn alle Bücher zugeschlagen; ein einziges liegt offen vor Aller Augen dar: das der Natur. Aus diesem großen und erhabenen Buche lerne ich dem Schöpfer dienen und ihn anbeten. Niemand ist zu entschuldigen, welcher in demselben nicht liest, weil es zu allen Menschen in einer jedem geistigen Wesen verständlichen Sprache redet. Und wäre ich auf einer wüsten Insel geboren, hätte ich außer mir nie einen Menschen gesehen, hätte ich nie erfahren, was sich vor Zeiten in einem Winkel der Erde ereignet hat, so würde ich doch, wenn ich nur meine Vernunft übte und sie sorgfältig ausbildete, wenn ich nur die mir von Gott verliehenen unmittelbaren Fähigkeiten richtig gebrauchte, von mir selbst ihn erkennen und lieben lernen, ja würde seine Werke lieben, das Gute, was er will, wollen, um sein Wohlgefallen zu erringen, alle meine Pflichten auf Erden erfüllen lernen. Und was könnte mich wol alles menschliche Wissen mehr lehren?
    Was die Offenbarung betrifft, so würde ich vielleicht, wenn ich ein schärferer Denker und besser geschult wäre, ihre Wahrheit und ihren Nutzen für diejenigen begreifen, welche das Glück haben, sie zu erkennen; allein wenn mir auch zu ihren Gunsten Beweise, die ich nicht zu bestreiten vermag, nicht entgehen, so verhehle ich mir doch auch nicht, daß sich Einwürfe gegen sie geltend machen, die ich nicht zu widerlegen vermag. Es gibt so viele triftige Gründe für und wider, daß ich, da ich nicht weiß, nach welcher Seite hin ich mich entscheiden soll, sie weder anerkenne noch verwerfe. Nur die Verpflichtung zu ihrer Anerkennung verwerfe ich entschieden, weil diese vermeintliche Verpflichtung mit der Gerechtigkeit Gottes unvereinbar ist, da er, weit davon entfernt, die Hindernisse des Heils dadurch zu beseitigen, sie vielmehr vervielfältigt und für den größten Theil der Menschheit unübersteiglich gemacht hätte. Dies ausgenommen verharre ich hinsichtlich dieses Punktesin einem ehrfurchtsvollen Zweifel. Ich bin nicht so vermessen, mich für unfehlbar zu halten. Andere Menschen sind im Stande gewesen, über das, was mir unentschieden und zweifelhaft scheint, zu entscheiden; ich denke für mich und nicht für sie. Wie ich sie nicht tadele, will ich ihnen auch nicht nachahmen. Vielleicht ist ihr Urtheil richtiger als das meinige; aber ich trage nicht die Schuld, wenn es das meinige nicht ist.

    Ich lege Ihnen gern das Geständniß ab, daß mich die Majestät der heiligen Schriften in Erstaunen setzt und mir die Heiligkeit des Evangeliums zu Herzen spricht. [44] Sehen Sie sich die Bücher der Philosophen mit all ihrer hochtrabenden Sprache an; wie unbedeutend nehmen sie sich doch neben demselben aus. Ist es möglich, daß ein so erhabenes und doch zugleich so einfaches Buch von Menschen herrührt? Ist es möglich, daß derjenige, dessen Geschichte es erzählt, selbst nur ein Mensch ist? Ist das wol der Ton, den ein Enthusiast oder ein ehrgeiziger Sectirer anschlägt? Welche Sanftmuth! Welche Sittenreinheit! Welche rührende Anmuth in seinen Unterweisungen! Welche Erhabenheit in seinen Grundsätzen! Welche tiefe Weisheit in seinen Reden! Welche Geistesgegenwart! Welche Feinheit und welches Schlagende in seinen Antworten! Welche Herrschaft über seine Leidenschaften! Wo ist der Mann, wo der Weise, der ohne Schwäche und Ostentation so zu handeln, zu leiden und zu sterben versteht? Wenn Plato sein Ideal eines Gerechten malt, [45] der mit aller Schmach des Verbrechens überhäuft, aber doch jedes Lohnes der Tugend würdig durch das Leben geht, so zeichnet er Jesum Christum Zug für Zug. Die Aehnlichkeit ist so treffend, daß sie allen Kirchenvätern auffiel und daß man sich unmöglich darüber täuschen kann. [46] Welche Vorurtheilemüssen einen Menschen erfüllen, welche Verblendung [47] muß sich seiner bemächtigt haben, wenn er es wagt, den Sohn des Sophroniskus mit Maria’s Sohne zu vergleichen! Was für ein Abstand zwischen Beiden! Sokrates, der ohne Schmerzen, ohne Schmach starb, führte seine Rolle mühelos bis zum Ende durch; und hätte dieser leichte Tod seinem Leben nicht zur Ehre gereicht, so könnte man gerechten Zweifel hegen, ob Sokrates mit all seinem Geiste etwas Anderes als ein

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