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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Wünsche hat die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse zur Quelle, und die Vergnügungen, die man zuerst kennen gelernt hat, sind lange Zeit die einzigen, die man sucht. Es ist durchaus nicht mein Wunsch, daß Emil seine ganze Jugend ausschließlich damit zubringen soll, Wild zu erlegen, und ich bin nicht einmal Willens, diese wilde Leidenschaft in allen Stücken zu rechtfertigen. Für mich genügt schon, daß sie dazu dient, eine noch gefährlichere Leidenschaft zurückzuhalten, so daß er mich, wenn ich davon rede, kaltblütig anzuhören vermag, und mir Zeit zu lassen, sie ihm zu schildern, ohne daß sie dadurch in ihm wachgerufen wird.
    Es gibt Epochen im Menschenleben, welche dazu bestimmt sind, nie wieder aus dem Gedächtnisse zu entschwinden. Eine solche ist für Emil die Zeit der Unterweisung, von der ich eben rede. Sie soll einen bleibenden Einfluß auf sein ganzes übriges Leben ausüben. Verwenden wir deshalb allen Fleiß darauf, sie seinem Gedächtnisse dergestalt einzugraben, daß sie unauslöschlich in demselben haftet. Es gehört zu den Irrthümern unserer Zeit, die Vernunft gern in allzu nackter Form in Anwendung zu bringen, als ob die Menschen nur geistige Wesen wären. Dadurch, daß man die Zeichensprache vernachlässigt, welche so beredt zur Einbildungskraft spricht, entbehrt man die allerüberzeugendste Sprache. Der Eindruck des Wortes ist stets nur schwach, und man spricht zum Herzen ungleich besser durch die Augen als durch die Ohren. Weil wir uns in Allem nur auf die logische Beweisführung verlassen wollen, haben wir uns bei unseren Vorschriften auf Worte beschränkt und sie nicht gleichzeitig in Handlungen verlegt. Die bloße Vernunft ist nicht wirksam, sie hält zwar zuweilen von etwas zurück, aber selten gibt sie einen starken Anreiz, und noch nie hat sie etwas Großes hervorgerufen. Fortwährendes Klügeln ist die Sucht kleiner Geister. Starke Seelen reden eine ganzandere Sprache; durch diese Sprache überzeugt man und gibt den Impuls zu Thaten.
    Ich habe die Bemerkung gemacht, daß in neuerer Zeit die Menschen nur durch Ausübung von Gewalt oder durch Erregung des Interesses einander beeinflussen, während die Alten vielmehr durch Ueberredung und Gemüthsbewegungen eine Einwirkung auf einander ausübten, weil sie die Zeichensprache nicht vernachlässigten. Um den Verträgen einen unverbrüchlicheren Charakter zu verleihen, fand ihr Abschluß unter großer Feierlichkeit statt. Ehe die Gewalt zur Geltung kam, waren die Götter die Obrigkeit des menschlichen Geschlechts. Vor ihnen schlossen die einzelnen Persönlichkeiten ihre Verträge und Bündnisse und gaben ihre festen Zusagen. Die Oberfläche der Erde bildete das Buch, in welchem sie ihre Urkunden aufbewahrten. Felsen, Bäume, Steinhaufen, die durch solche Acte geheiligt und den rohen Menschen ehrwürdig gemacht waren, dienten als Blätter dieses vor Aller Augen beständig offen daliegenden Buches. Der Brunnen des Eides, der Brunnen des Lebendigen und Sehenden, die alte Eiche zu Mamre, der Steinhaufe des Zeugnisses, das waren die zwar rohen, aber hehren Denkmale der Heiligkeit der Verträge. Niemand hätte gewagt, sich mit ruchloser Hand an diesen Denkmalen zu vergreifen, und die Treue der Menschen war durch die Bürgschaft dieser stummen Zeugen gesicherter als heut zu Tage durch alle nichtige Strenge der Gesetze.
    Hinsichtlich der Staatsregierung flößte der majestätische Prunk königlicher Macht den Völkern Achtung ein. Zeichen der Würde, ein Thron, ein Scepter, ein Purpurgewand, eine Krone, eine Stirnbinde galten ihnen als geheiligte Dinge. Diese in Ehren gehaltenen Zeichen machten ihnen auch den Mann ehrwürdig, den sie damit geschmückt sahen. Ohne Soldaten, ohne Drohungen wurde ihm auf das Wort gehorcht. Gegenwärtig gefällt man sich darin, diese Zeichen abzuschaffen; [54] was ist aber die Folge dieserMißachtung? Daß die königliche Majestät in Aller Herzen mehr und mehr in Vergessenheit geräth, daß sich der den Königen schuldige Gehorsam nur noch durch Truppenmacht erzwingen läßt und daß die Ehrfurcht der Unterthanen nur in der Furcht vor der Strafe besteht. Die Könige sind zwar der Mühe überhoben, ihr Diadem zu tragen, und die Großen brauchen die Abzeichen ihrer Würde nicht mehr stets mit sich zu führen, aber sie müssen dafür beständig hunderttausend Arme zur Verfügung haben, um über die Ausführung ihrer Befehle zu wachen. Obgleich ihnen dies vielleicht angenehmer erscheint, so läßt sich doch leicht

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