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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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einsehen, daß auf die Länge dieser Tausch nicht zu ihrem Vortheile ausfallen kann.
    Die Erfolge, welche die Alten durch die Beredtsamkeit erzielt haben, sind geradezu wunderbar. Diese Beredtsamkeit bestand indeß nicht allein in schönen und wohlgesetzten Worten; vielmehr konnte sie nie auf eine größere Wirkung rechnen, als wenn der Redner am wenigsten sprach. Was den lebhaftesten Eindruck hervorbrachte, drückte man nicht durch Worte, sondern durch Zeichen aus; man sagte es nicht, man zeigte es. Der Gegenstand, den man den Blicken darbietet, ergreift die Einbildungskraft, erregt die Neugier, versetzt den Geist in Spannung auf das, was man sagen will, und oft liegt in seinem Anblicke schon Alles ausgedrückt. Lag in der Handlungsweise des Thrasybulus und Tarquinius, als sie Mohnköpfe abschlugen, des Alexander, als er seinem Lieblinge sein Siegel auf den Mund drückte, des Diogenes, als er vor dem Zeno hin und her ging, nicht mehr ausgesprochen, als wenn sie lange Reden gehalten hätten? Wie wäre man wol beialler Weitschweifigkeit im Stande gewesen, dieselben Ideen mit Worten eben so gut auszudrücken? Als Darius mit seinem Heere in Scythien eingedrungen ist, empfängt er vom Könige des Landes einen Vogel, einen Frosch, eine Maus und fünf Pfeile. Der Gesandte übergibt sein Geschenk und kehrt, ohne ein einziges Wort zu sagen, zurück. Heutigen Tages würde dieser Mann freilich für einen Narren gegolten haben, allein damals wurde diese furchtbare Sprache verstanden, und Darius hatte nichts Eiligeres zu thun, als so schnell er nur konnte, wieder in sein Land zurückzukehren. Ersetzet diese Zeichen durch einen Brief; je drohender er wäre, desto weniger würde er Furcht einzujagen vermögen; er hätte wie Prahlerei geklungen, die Darius nur verlacht hätte.
    Wie viel Aufmerksamkeit wandten die Römer dieser Zeichensprache zu! Die nach Alter und Lebensstellung verschiedenartige Kleidung, die Toga, das Sagum, die Prätexta, die Bulla, das Laticlarium, die Sella curulis, die Lictoren, die Fasces, die Beile, die Kränze von Gold, Gräsern und Blättern, die Ovationen, die Triumphzüge: Alles war bei ihnen Pomp, Repräsentation, Ceremonie, und Alles machte auf die Herzen der Bürger Eindruck. Der Staat legte Gewicht darauf, ob sich das Volk lieber an diesem oder an jenem Orte versammelte, ob es seine Augen auf das Capitol richtete oder nicht, ob es sich dem Senate zuwandte oder von ihm abwandte, ob es für seine Berathungen diesem oder jenem Tage den Vorzug gab. Die Angeklagten wechselten ihre Kleidung, und dieselbe Sitte beobachteten diejenigen, welche sich um ein Amt bewarben; die Krieger rühmten sich nicht ihrer Heldenthaten, sondern zeigten ihre Wunden. Stelle ich mir vor, daß bei dem Tode Cäsars einer unserer Redner das Volk erregen wollte, wie verschwenderisch würde er mit allen Gemeinplätzen der Kunst um sich werfen, um eine recht rührende Schilderung von den Wunden, dem Blute und dem Leichname desselben zu entwerfen. Antonins sagt, so beredt er auch ist, von alledem kein Wort; er läßt den Leichnam herbeibringen. Was für eine Rhetorik!
    Diese Abschweifung führt mich indeß unvermerkt vonmeinem Gegenstande ab. Wenn nun auch viele Andere denselben Fehler begehen, so kehren doch meine Abschweifungen allzu häufig wieder, als daß man sie bei ihrer Länge erträglich finden könnte. Ich komme also wieder zur Sache.
    Laßt euch der Jugend gegenüber nie auf trockene Erörterungen ein. Wollt ihr die Vernunft derselben faßbar machen, so umkleidet sie auch mit einem faßbaren Körper. Laßt die Sprache des Geistes ihren Weg durch das Herz nehmen, damit sie verständlich werde. Noch einmal sei es gesagt: frostige Vernunftschlüsse sind wol im Stande unsere Ansichten, nicht aber unsere Handlungen zu bestimmen; sie sind die Quelle des Glaubens, aber nicht des Handelns. Man beweist, was man denken, aber nicht, was man thun muß. Wenn diese Wahrheit schon in Bezug auf alle Menschen gilt, mit wie viel mehr Grund gilt sie dann in Bezug auf junge Leute, die sich von den Banden der Sinnenwelt noch nicht frei gemacht haben und nur das zu denken vermögen, was sie sich sinnlich vorstellen können.
    Selbst nach den Vorbereitungen, von denen ich bereits gesprochen habe, werde ich mich deshalb wol hüten, Emil plötzlich auf seinem Zimmer aufzusuchen und ihm über den Gegenstand, über welchen ich ihn belehren will, ungeschickterweise eine lange Rede zu halten. Ich werde zunächst seine Einbildungskraft anzuregen suchen

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