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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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und Ort, Zeit und Umstände so wählen, wie ich sie für den Eindruck, den ich hervorzurufen beabsichtige, am günstigsten halte. Ich werde gleichsam die ganze Natur zur Zeugin unserer Unterredung herbeirufen, werde das ewige Wesen, dessen Werk sie ist, zum Zeugen der Wahrheit meiner Rede anrufen und es als Richter zwischen Emil und mir aufstellen; werde auf den Platz, an dem wir weilen, auf die Felsen, Haine und Berge, die uns umgeben, als auf Denkmale seiner und meiner Versprechungen hinweisen; werde in meine Blicke, in meinen Ton, in meine Geberden die Begeisterung und das Feuer hineinlegen, mit welchen ich ihn zu erfüllen wünsche. Dann erst werde ich zu ihm sprechen, und er wird auf mich hören; Rührung wird sichmeiner bemächtigen, und auch er wird sich bewegt fühlen. Dadurch, daß ich selbst von der Heiligkeit meiner Pflichten durchdrungen bin, werde ich ihm die seinigen um so achtbarer erscheinen lassen. Die Stärke der Beweisgründe werde ich durch Bilder und bildliche Ausdrücke beleben; ich werde mich nicht lang und weitschweifig in kalten Grundsätzen ergehen, sondern mein übervolles Herz wird von Gefühlen überströmen. Meine Vernunft wird mir ernste und sentenzenreiche Worte in den Mund legen, aber mein Herz wird nie genug gesagt haben. Wenn ich vor seiner Seele dann Alles vorüberziehen lasse, was ich für ihn gethan habe, werde ich es ihm so schildern, als ob ich es um meinetwillen gethan hätte. Er wird dann den Grund aller meiner Sorgfalt in meiner zärtlichen Zuneigung erblicken. Wie überrascht, wie bewegt wird er sich fühlen, wenn ich in dieser Weise plötzlich die Sprache ändere! Anstatt ihm die Seele niederzudrücken, indem ich beständig nur von seinem Interesse rede, werde ich von nun an nur von meinem eigenen reden und seine Rührung dadurch nur noch erhöhen. In seinem jungen Herzen werde ich alle jene Gefühle der Freundschaft, des Edelmuths und der Dankbarkeit, die ich schon vorher wachgerufen habe, und deren Pflege so süß ist, mehr und mehr anfachen. Unter Thränen der Rührung werde ich ihn in meine Arme schließen und zu ihm sagen: »Du bist mein Reichthum, mein Kind, bist mein Werk; von deinem Glücke erwarte ich das meine; wenn du meine Hoffnungen täuschest, raubst du mir zwanzig Jahre meines Lebens und machst mich noch in meinen alten Tagen unglücklich.« So muß man es anfangen, um sich bei einem jungen Manne Gehör zu verschaffen und ihm die Erinnerung an das, was man ihm sagt, tief in das Herz zu graben.
    Bisher habe ich mich bemüht, an Beispielen nachzuweisen, wie ein Erzieher bei der Unterweisung seines Zöglings in schwierigen Fällen verfahren muß. Auch in Bezug auf den letztangeregten Fall habe ich versucht, ein solches Beispiel zu geben. Aber nach diesen vielfachen Versuchen stehe ich endlich davon ab, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung verschließen kann, daß die französische Sprache vielzu gekünstelt ist, um je in einem Buche die Naivetät der ersten Unterweisungen hinsichtlich gewisser Punkte ertragen zu können.
    Die französische Sprache soll, wie behauptet wird, die keuscheste aller Sprachen sein; ich für meinen Theil halte sie indeß für die allerunzüchtigste, denn die Keuschheit einer Sprache besteht meinem Bedünken nach nicht sowol in dem Vermögen, unanständige Wendungen vermeiden zu können, als vielmehr in dem völligen Mangel an denselben. In der That muß man ja, um sie vermeiden zu können, an sie denken, und es gibt keine Sprache, in welcher es schwieriger wäre, rein zu sprechen, welchen Sinn man auch mit diesem Worte verbinden möge, als die französische. Da der Leser stets eine größere Geschicklichkeit besitzt, einen unkeuschen Sinn herauszufinden, als der Schriftsteller, ihn von seinen Werken fern zu halten, so nimmt derselbe an Allem Anstoß und Aergerniß. Wie sollte das, was durch unreine Ohren hindurchgeht, von ihrer Unreinigkeit nicht etwas annehmen? Ein Volk von guten Sitten hat dagegen für alle Dinge einen bezeichnenden Namen, und diese Bezeichnungen sind stets anständig, weil sie nie anders als in anständiger Weise angewendet werden. Es ist unmöglich, sich eine züchtigere Sprache als die der Bibel zu denken, eben deswegen, weil in derselben Alles mit völliger Unbefangenheit herausgesagt wird. Um die nämlichen Dinge unzüchtig erscheinen zu lassen, ist es ausreichend, sie in das Französische zu übersetzen. Was ich meinem Emil zu sagen habe, wird für sein Ohr nur keusch und ehrbar sein; damit es aber diesen

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