Emil oder Ueber die Erziehung
Charakter beim Lesen nicht verliert, muß man ein eben so reines Herz haben wie er.
Ich bin sogar der Ansicht, daß solchen Betrachtungen über die wahre Reinheit der Rede und über die falsche Zartheit des Lasters eine nützliche Stelle in den moralischen Unterhaltungen, auf welche dieses Thema uns führt, eingeräumt werden könnte; denn indem mein Zögling die Sprache der Ehrbarkeit lernt, muß er auch die des äußeren Anstands lernen, und er muß notwendigerweise erfahren, weshalb diese beiden Sprachen in so hohem Grade voneinander abweichen. Wie dem nun aber auch immer sein mag, so stelle ich doch die Behauptung auf: wenn man, anstatt der Jugend vor der Zeit immer und immer wieder leere Vorschriften zu predigen, über welche sich dieselbe in dem Alter, in welchem sie angebracht wären, doch nur lustig macht, den Augenblick, wo man sich verständlich machen kann, ruhig abwartet und vorbereitet; wenn man ihr alsdann die Gesetze der Natur in ihrer ganzen Wahrheit darlegt; wenn man ihr dadurch, daß man sie auf die physischen und moralischen Uebel aufmerksam macht, welche die Uebertretung dieser Gesetze nach sich zieht, die Richtigkeit derselben nachweist; wenn man, sobald man mit ihr von dem unbegreiflichen Geheimnisse der Zeugung spricht, mit der Idee des Reizes, den der Schöpfer der Natur an diesen Act geknüpft hat, noch die Idee einer ausschließlichen Zuneigung, die ihn gerade erst so entzückend macht, so wie die von den Pflichten der Treue und Schamhaftigkeit verbindet, welche ihn umhüllen und seinen Zauber durch die Befriedigung seines Gegenstandes verdoppeln; wenn man ihr die Ehe nicht nur als die süßeste aller Vereinigungen, sondern auch als den unverletzlichsten und heiligsten aller Verträge darstellt, und ihr mit größtem Nachdruck alle Gründe auseinandersetzt, aus welchen ein so heiliges Band allen Menschen ehrwürdig ist, und weshalb derjenige, welcher die Reinheit desselben zu beflecken wagt, vor aller Welt mit Haß und Fluch bedeckt dasteht; wenn man vor ihr ein treffendes und treues Gemälde von den Gräueln der Ausschweifung, von der stumpfsinnigen Verthierung, von der unmerklichen Steigerung des Triebes entrollt, in Folge dessen der erste Fehltritt zu immer neuen Ausschweifungen fortreißt und denjenigen, der sich ihnen hingibt, rettungslos ins Verderben stürzt; wenn man ihr, sage ich, den Nachweis liefert, daß sich nur mit einem keuschen Sinne Gesundheit, Kraft und Tugend paaren, ja daß sogar von ihm die Liebe und alle wahre Güter des Menschen abhängen: dann, behaupte ich, wird man ihr die Keuschheit wünschenswerth und theuer erscheinen lassen und ihren Geist für die Mittel, die man ihr zur Bewahrung derselben empfiehlt, empfänglich finden. Denn solange man sie bewahrt, hält man sie auch in Ehren; man verachtet sie erst, nachdem man sie verloren hat.
Es ist durchaus nicht wahr, daß die Neigung zum Bösen unbezähmbar sei und daß man sie nicht zu überwinden vermöge, bevor es zur Gewohnheit geworden sei, ihr zu unterliegen. Aurelius Victor berichtet, daß mehrere Männer, von glühender Liebe zur Kleopatra erfüllt, gern eine mit derselben zugebrachte Nacht mit ihrem Leben erkauft hätten, [55] und im Rausche der Leidenschaft ist dies Opfer allerdings nicht unmöglich. Wir wollen aber einmal annehmen, ein Mann, der von leidenschaftlicher Liebe ergriffen wäre und seine Sinnlichkeit nicht mehr zu beherrschen vermöchte, sähe die Vorbereitungen zu seiner Hinrichtung und wäre sicher, eine Viertelstunde später sein Leben unter qualvollen Martern zu enden: so würde dieser Mensch nicht allein seine Versuchungen sofort besiegen, sondern es würde ihm sogar nur wenig Mühe kosten, ihnen zu widerstehen. Das entsetzliche Bild, das in ihrer Begleitung erschiene, würde ihn bald von denselben ablenken, und beständig zurückgewiesen, würden sie endlich gar nicht mehr in ihm auftauchen. Nur aus der Schlaffheit unseres Willens entsteht alle unsere Schwäche; um das zu thun, was man mit aller Kraft will, besitzt man stets die Kraft. Volenti nihil difficile! (Dem, der da will, ist nichts schwer.) Ach, wenn wir das Laster eben so verabscheuten, wie wir das Leben lieben, so würden wir auch vor einem lockenden Verbrechen eben so zurückschaudern wie vor einem tödtlichen Gifte in einem leckeren Gerichte.
Wie vermag man sich nur gegen die Einsicht zu verschließen, daß, wenn alle Belehrungen, die man einem Jünglinge über diesen Punkt ertheilt, dennoch erfolglos bleiben, die Ursache
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