Emil oder Ueber die Erziehung
Nach seinen freien Worten, seinen Grundsätzen des weltmännischen Tons, seinem lockeren, Wandel würdet ihr ihn für einen ganz anderen Menschen halten, wenn nicht seine Witzeleien über seine frühere Einfalt und seine Scham, wenn man ihn an dieselbe erinnert, bewiesen, daß er derselbe ist, und daß er über sie erreichet. O, wie hat er sich in so kurzer Zeit entwickelt! Woher kommt ein so großer und plötzlicher Umschlag? Etwa von der naturgemäßen Entwicklung seines Temperaments? Würde sich sein Temperament im väterlichen Hause nicht ebenfalls entwickelt haben? Und gleichwol hätte er in demselben diesen Ton und diese Grundsätze sicherlich nicht angenommen. Oder von den ersten sinnlichen Genüssen? Im Gegentheil. Wenn man sich denselben zu überlassen beginnt, ist man furchtsam, unruhig, flieht das helle Tageslicht, scheut jedes Geräusch. Die ersten Sinnengenüsse hüllen sich immer in Geheimniß; die Scham würzt und verbirgt sie. Die erste Geliebte macht uns nicht frech, sondern schüchtern. In einen ihm so neuen Zustand ganz versunken, geht der junge Mann völlig in dem Bestreben auf, ihn zu genießen, und lebt in beständiger Angst, ihn zu verlieren. Wenn er es an die große Glocke hängt, ist er weder wollüstig noch zärtlich; so lange er damit prahlt, hat er noch nicht genossen.
Eine andere Denkungsart hat diesen Umschlag allein hervorgerufen. Sein Herz ist noch dasselbe, aber in seinen Ansichten hat sich eine Wandlung vollzogen. Seine Gefühle, bei denen ein Wechsel langsamer eintritt, werden sich in Folge dessen endlich auch ändern, und erst dannwird er wirklich verdorben sein. Kaum ist er in die Welt eingetreten, so erhält er eine zweite, der ersten ganz entgegengesetzte Erziehung, die ihm gegen das, was er sonst hochschätzte, Verachtung und Achtung vor dem, was er sonst verachtete, einflößt. Man ruht nicht eher, als bis er die Lehren seiner Eltern und Lehrer als pedantisches Geschwätz und die Pflichten, welche sie ihm eingeprägt haben, als eine kindische Moral betrachtet, denen man als Erwachsener seine Verachtung zollen müsse. Er wähnt, die Ehre gebiete ihm, daß er seinen Wandel ändere; er wird, ohne daß ihn die Begierden dazu treiben, den Frauen gegenüber unternehmend und geckenhaft aus falscher Scham. Ehe er noch an den schlechten Sitten Geschmack gefunden hat, treibt er mit den guten Sitten seinen Spott, und sucht etwas darin, einen ausschweifenden Lebenswandel zu führen, ohne daß er ausschweifend zu sein versteht. Nie werde ich das Geständniß eines jungen Officiers der Schweizergarde vergessen, der zwar die lärmenden Vergnügungen seiner Kameraden höchst langweilig fand, aber trotzdem nicht wagte, sich von denselben fern zu halten, aus Furcht, deshalb von ihnen verspottet zu werden. »Trotz meiner Abneigung,« sagte er, »übe ich mich darin, wie im Schnupfen. Mit der Gewohnheit wird auch der Geschmack schon kommen; man kann doch nicht immer ein Kind bleiben.«
Ein junger Mann muß folglich bei seinem Eintritte in die Welt weniger vor der Sinnlichkeit, als vielmehr vor der Eitelkeit bewahrt werden. Er gibt mehr den Neigungen Anderer als seinen eigenen nach, und die Eigenliebe macht mehr Wüstlinge als die Liebe.
Dies angenommen, so frage ich, ob es wol auf der ganzen Erde Jemand gibt, der besser als mein Zögling gegen Alles gewaffnet ist, was seine Sitten, seine Gefühle, seine Grundsätze gefährden könnte, und ob wol Jemand mehr im Stande ist, der Strömung zu widerstehen. Denn gegen welche Versuchung besitzt er nicht Verteidigungswaffen? Wenn ihn seine Begierden zum anderen Geschlechte hinziehen, so findet er bei demselben nicht, was er sucht, und sein vorher eingenommenes Herz hält ihn zurück.Wenn ihn seine Sinnlichkeit in Wallung bringt und anstachelt, wo wird er Befriedigung derselben finden können? Der Abscheu vor Ehebruch und Ausschweifung hält ihn sowol von Freudenmädchen wie von verheiratheten Frauen fern, und von einer dieser beiden Classen gehen die Ausschweifungen der Jugend stets aus. Ein Mädchen, das sich zu verehelichen gedenkt, kann gefallsüchtig, nie aber frech sein; es wird sich einem jungen Manne, der es vielleicht heirathen könnte, wenn er es für sittsam hält, nie an den Hals werfen. Uebrigens wird stets irgend Jemand mit seiner Überwachung betraut sein. Emil wird sich seinerseits ebenfalls nicht völlig selbst überlassen bleiben; wenigstens werden Beiden Schüchternheit und Schamgefühl, welche von den ersten Begierden unzertrennlich
Weitere Kostenlose Bücher