Emil oder Ueber die Erziehung
sind, schützend zur Seite stehen. Sie werden nicht sofort zu der äußersten Stufe der Vertraulichkeit übergehen und keine Zeit haben, ohne Hindernisse nach und nach zu ihr zu gelangen. Sollte er dabei ein anderes Benehmen zeigen, so müßten ihm seine Kameraden schon Anleitung gegeben, so müßte er von ihnen schon gelernt haben, über seine Zurückhaltung zu spotten, und nach ihrem Beispiele mit frecher Stirne einherzugehen. Welcher Mensch auf Erden hat aber weniger Nachahmungstrieb als Emil? Welcher Mensch läßt sich weniger durch einen Alles in das Scherzhafte hinabziehenden Ton leiten, als derjenige, der von allen eigenen Vorurtheilen frei ist, und nichts auf diejenigen gibt, welche Andere hegen? Zwanzig Jahre habe ich daran gearbeitet, ihn gegen die Spötter zu waffnen; sie werden sich länger als vierundzwanzig Stunden abmühen müssen, ehe es ihnen gelingt, ihn hinter das Licht zu führen, denn das Lächerliche gilt in seinen Augen nur für die Thoren als Beweisgrund, und nichts macht gegen Spöttereien unempfindlicher, als über die allgemeine Meinung erhaben zu sein. Anstatt der Spöttereien bedarf es bei ihm der Gründe, und hat er sich erst einmal bis zu dieser Höhe emporgeschwungen, dann hege ich keine Furcht, daß ihn mir junge Thoren entführen werden; ich habe das Gewissen und die Wahrheit für mich. Sollte sich aber das Vorurtheil gleichwol einmischen, so muß einezwanzigjährige Zuneigung doch auch in Anschlag gebracht werden; man wird ihm niemals die Ueberzeugung aufdrängen können, daß ich ihn mit nichtigen Lehren gelangweilt habe, und in einem redlichen und fühlenden Herzen wird die Stimme eines treuen und wahren Freundes das Geschrei von zwanzig Verführern leicht verstummen lassen. Da es sich alsdann nur darum handelt, ihm den Nachweis zu führen, daß sie ihn betrügen, und daß sie ihn, während sie sich den Anschein geben, als behandelten sie ihn als Mann, in Wahrheit doch nur als Kind behandeln, so werde ich mich bestreben, bei der Darlegung meiner Gründe stets einfach, aber ernst und klar zu sein, damit er herausfühlt, daß umgekehrt ich es gerade bin, der ihn als Mann behandelt. Ich werde zu ihm sagen: »Du begreifst, daß dein Interesse allein, welches mit dem meinigen zusammenfällt, mich antreibt, mit dir zu reden; ich kann mich dabei von keinem anderen Interesse leiten lassen. Weshalb gehen aber jene jungen Leute darauf aus, dich zu überreden? Deshalb, weil sie dich verführen wollen. Sie lieben dich nicht, noch nehmen sie Antheil an dir. Sie lassen sich von keinem anderen Beweggrunde bestimmen, als von einem geheimen Aerger darüber, daß du, wie ihnen nicht entgeht, besser bist, als sie. Sie wollen dich erniedrigen, bis du mit ihnen auf gleicher Stufe stehst, und machen dir nur deshalb den Vorwurf, du lassest dich leiten, damit sie dich selbst beherrschen möchten. Kannst du dich wol dem Wahne hingeben, daß du bei dem Tausche gewinnen wirst? Zeichnen sie sich denn durch eine so hervorragende Weisheit aus, und ist ihre nur nach Stunden zählende Zuneigung denn stärker als die meinige? Um ihrem Gespött irgend ein Gewicht beizumessen, müßte man doch auf ihre Autorität etwas geben können. Auf welche Erfahrung können sie sich aber wol stützen, um ihren Grundsätzen den Vorrang vor den unserigen anzuweisen? Wie sie immer nur andere Leichtsinnige nachgeahmt haben, so verlangen sie jetzt ihrerseits nachgeahmt zu werden. Um sich über die angeblichen Vorurteile ihrer Väter zu erheben, unterwerfen sie sich denen ihrer Kameraden. Was sie dabei gewinnen, vermag ich nicht einzusehen. Sicherlichaber verlieren sie, so viel ist mir klar, zwei große Vortheile: die väterliche Liebe, deren Rathschläge so wohlmeinend und aufrichtig sind, und die Erfahrung, welche den Menschen in den Stand setzt, über das zu urtheilen, was er kennt; denn die Väter sind Kinder gewesen, nicht aber die Kinder Väter.«
»Hältst du sie bei ihren thörichten Grundsätzen aber wenigstens für aufrichtig? Auch das nicht einmal, mein lieber Emil. Sie täuschen sich selbst, um dich zu täuschen; es fehlt ihnen an der inneren Übereinstimmung. Ihr Herz straft sie unaufhörlich Lügen, und häufig widerspricht ihnen ihr eigener Mund. Hier macht Einer von ihnen Alles, was ehrbar ist, zum Gespött, und würde doch in Verzweiflung gerathen, wenn seine Gattin seine Gesinnung theilte. Dort dehnt ein Anderer die Gleichgültigkeit gegen die guten Sitten bis auf die Sittlichkeit der Frau aus, die er noch gar
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