Emil oder Ueber die Erziehung
andern die Anmuth entwickelt werden; allein nicht etwa so, daß diese Eigenschaften ausschließliches Eigenthum eines der beiden Geschlechter werden, sie sollen nur in umgekehrter Ordnung auftreten. Die Frau muß so viel Kraft besitzen, um Alles mit Anmuth ausführen zu können; der Mann bedarf hinwiederum der Geschicklichkeit, um Alles mit Leichtigkeit zu verrichten.
Mit einem Uebermaße der Verweichlichung der Frauen nimmt auch die Verweichlichung der Männer ihren Anfang. Wenn die Frauen auch nicht so stark wie dieselben zu sein brauchen, so müssen sie doch so kräftig sein, um tüchtigen Knaben das Leben geben zu können. In dieser Beziehung sind die Klöster, in denen die Zöglinge zwar eine grobe Kost erhalten, aber viel freie Bewegung haben, viel in der freien Luft und in den Gärten umherlaufen und spielen, mancher häuslichen Erziehung vorzuziehen. Gibt es ja doch leider viele Familien, in denen die Tochter nur an leckere Kost, an Schmeichel- oder Scheltworte gewöhnt wird und in denen sie beständig unter den Augen der Mutter im verschlossenen Zimmer sitzen muß. Was ist aber die Folge einer solchen Erziehung? Daß das arme Kind nicht frei aufzustehen, nicht zu gehen, nicht zu sprechen, ja kaum Athem zu holen wagt, und nie einen freien Augenblick hat, nach Herzenslust zu spielen, zu springen, zu laufen, zu schreien und sich dem natürlichen Muthwillen seines Alters zu überlassen. Beides, beständige Nachsichtund übelangebrachte Strenge, ist verderblich und entspricht keineswegs der Vernunft. Durch einseitige Behandlung verdirbt man nur Körper und Seele der Jugend.
Die spartanischen Mädchen wurden wie die Knaben in kriegerischen Spielen ausgebildet, nicht etwa um persönlich in den Krieg zu ziehen, sondern um dereinst Mütter von Knaben werden zu können, die fähig wären, die Beschwerden des Krieges zu ertragen. Ich kann mich damit zwar nicht völlig einverstanden erklären, denn es ist durchaus nicht nothwendig, daß die Mutter, um dem Staate Soldaten zu geben, die Flinte getragen und das preußische Exercitium durchgemacht habe, allein im Allgemeinen finde ich die griechische Erziehung in diesem Punkte sehr verständig. Die jungen Mädchen erschienen oft öffentlich, freilich nicht mit den Knaben gemeinschaftlich, sondern von ihnen getrennt. Es gab fast kein Fest, keine feierliche Opferhandlung, an denen nicht Schaaren von Mädchen der vornehmsten Bürger, mit Blumen bekränzt, Theil nahmen. Sie trugen Körbe, Vasen und Opfergaben, sangen Hymnen, führten gemeinschaftliche Tänze auf und boten so den verfeinerten Sinnen der Griechen ein reizendes Schauspiel dar, das geeignet war, der üblen Wirkung ihrer gerade nicht sehr anständigen Gymnastik die Wage zu halten. Abgesehen von dem Eindrucke, welchen dieser Brauch auf das Herz der Männer ausüben mußte, so war er doch immer in der Beziehung vortrefflich, daß er durch angenehme, mäßige und heilsame Uebungen die weibliche Jugend körperlich gut entwickelte und ihr außerdem durch das beständige Bestreben zu gefallen den Geschmack schärfte und bildete, ohne je ihre Sittlichkeit ernstlich zu gefährden.
Sobald diese jungen Mädchen in den Ehestand traten, ließen sie sich öffentlich nicht mehr sehen. In ihre Wohnungen zurückgezogen, widmeten sie alle ihre Sorgfalt lediglich dem Hauswesen und der Familie. Das ist eben die Lebensweise, welche Natur und Vernunft dem weiblichen Geschlechte vorschreiben. Von solchen Müttern wurden denn auch die gesundesten, kräftigsten und wohlgebildetsten Kinder geboren, und daher kam es, daß, ungeachtet des üblen Rufes einiger Inseln, unter allen Völkern derErde, selbst die Römer nicht ausgenommen, die Frauen der Griechen als die weisesten und liebenswürdigsten galten, bei denen sich Sittlichkeit und Schönheit harmonisch paarten.
Es ist bekannt, daß die bequeme, den Körper nicht einengende Kleidung viel dazu beitrug, demselben bei beiden Geschlechtern jene schönen Verhältnisse zu bewahren, welche man an ihren Statuen bewundert, und die heutigen Tages noch als Vorbilder der Kunst dienen, da die verunzierte Natur solche Gestalten unter uns nicht mehr hervorbringt. Von all den gothischen Fesseln und der Menge von Bändern, welche unsern Körper von allen Seiten einschnüren, wußten sie nichts. Ihre Frauen kannten auch die Schnürleiber nicht, durch welche die unserigen ihre Figur mehr verunstalten, als ihre wahre Beschaffenheit zeigen. Nach meiner Ansicht muß ein solcher Mißbrauch, der in England
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