Emil oder Ueber die Erziehung
Aber in diesen Ländern gehen auch die Männer bei jedem Wetter halb nackend, bekämpfen muthig die wilden Thiere, tragen ein Boot wie einen Ranzen, dehnen ihre Jagdzüge oft sieben- bis achthundert Meilen aus, schlafen unter freiem Himmel auf bloßer Erde, ertragen unglaubliche Mühseligkeiten und können tagelang ohne Nahrung aushalten. Wenn die Frauen kräftig werden, ist dasselbe bei den Männern in noch höherem Maße der Fall. Verweichlichen sich jedoch die Männer, so nimmt die Verweichlichung bei den Frauen erst recht überhand. Wenn sich demnach beide Geschlechter immer auf gleiche Weise verändern, so bleibt der Unterschied stets der nämliche.
Plato läßt in seiner Republik die Frauen dieselben Uebungen wie die Männer betreiben. Das mußte er auch, denn da in seinem Staate keine einzelnen Familien bestehen sollten, und er nun nicht mehr wußte, was mit den Frauen anzufangen wäre, so blieb ihm nichts Anderes übrig, als Männer aus ihnen zu machen. Dieser treffliche Kopf, Alles vorhersehend und berechnend, kam dadurch einem Einwurfe zuvor, an den vielleicht sonst Niemand gedacht hätte. Der Einwand aber, den man wirklich gegen ihn erhoben hat, fand seinerseits eine schlechte Widerlegung. Ich rede hier keineswegs von dem vermeintlichen gemeinsamen Besitze der Frauen. Es ist dies ein Vorwurf, der, so oft man ihn auch gegen Plato wiederholt haben mag, nur den Beweis liefert, daß diejenigen, die ihn machten, Plato nie gelesen haben. Ich spreche vielmehr von jener gesellschaftlichen Vermischung, die in jeder Beziehung die beiden Geschlechter, sogar in ihren Beschäftigungen und Arbeiten zusammenwirft und sicherlich nicht verfehlen kann, die unerträglichsten Mißbräuche hervorzurufen. Ich spreche von dieser Zerstörung der süßesten natürlichen Empfindungen, die einem erkünstelten Gefühle geopfert werden, welches ohne sie gar nicht einmal bestehen könnte. Als ob nicht ein natürliches Mittel nöthig wäre, um die Bande inniger Gemeinschaft zu knüpfen! Als ob die Liebe, dieman zu den Seinen hegt, nicht die Quelle der dem Staate schuldigen Liebe wäre! Als ob nicht gerade erst durch das kleine Vaterland, welches gleichsam die Familie bildet, das Herz an das große gefesselt würde! Als ob nicht gerade der gute Sohn, der gute Gatte, der gute Vater auch den guten Bürger abgeben!
Steht nun so viel fest, daß Mann und Frau in Bezug auf Charakter und Temperament weder gleich beschaffen sind, noch gleich beschaffen sein dürfen, so folgt daraus auch, daß sie keine gleichmäßige Erziehung erhalten können. Sie sollen zwar in Beobachtung der von der Natur angedeuteten Richtungen in Übereinstimmung handeln, sollen aber deshalb nicht dasselbe thun. Der Zweck ihrer Arbeiten ist ein gemeinsamer, aber die Arbeiten selbst sind verschieden, und demnach auch die Neigungen, von denen sie sich leiten lassen. Haben wir uns vorher bemüht, einen Mann naturgemäß zu erziehen, so bleibt uns, damit wir unser Werk nicht unvollkommen lassen, noch zu zeigen übrig, wie die Frau zu erziehen ist, die das Gegenstück zu diesem Manne bildet.
Wer stets gut geleitet sein will, der folge beständig den Weisungen der Natur. Alles, was dem Geschlechte eigenthümlich ist, muß als deren Werk angesehen und deshalb in Ehren gehalten werden. Ihr werdet nicht müde, zu sagen: »Die Frauen haben den und den Fehler.« Allein euer Stolz täuscht euch. Eigenschaften, welche bei euch als Mängel erscheinen würden, zeigen sich bei ihnen als Tugenden. Besäßen sie dieselben nicht, so würde es in mancher Beziehung schlechter mit uns bestellt sein. Man verhindere nur, daß diese vermeintlichen Fehler ausarten, rotte sie aber nicht aus.
Die Frauen ihrerseits hören nicht auf zu klagen, daß wir sie zur Eitelkeit und Gefallsucht erziehen und daß wir sie beständig nur mit lauter Kindereien zu unterhalten suchen, um desto leichter die Herren spielen zu können. Sie wollen die Fehler, die wir ihnen vorwerfen, uns aufbürden. Das ist thöricht! Seit wann lassen sich denn die Männer auf Mädchenerziehung ein? Wer hindert die Mütter, ihre Töchter völlig so zu erziehen, wie es ihnenbeliebt? Sie haben keine hohe Schulen! Das ist wirklich ein großes Unglück! Aber wollte Gott, wir hätten auch keine für die Knaben! Sie würden dann sicherlich vernunftgemäßer und sittsamer erzogen werden. Wer zwingt denn die Mädchen, ihre Zeit mit Tändeleien zu vertreiben und selbst gegen ihren Willen ihr halbes Leben am Putztische zuzubringen? Wer anders
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