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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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der Nadel arbeiten als lesen und schreiben. Sie denken schon mit Vergnügen daran, daß ihnen diese Geschicklichkeit, wenn sie einst groß sein werden, dazu dienen kann, sich zu putzen.
    Ist dieser Weg erst gebahnt, so ist alles Uebrige leicht. Das Nähen, Sticken, Klöppeln kommen wie von selbst. Teppichstickerei sagt ihnen dagegen weniger zu. Die Möbel liegen ihnen noch zu fern; außerdem haben sie nichts mit ihrer Person zu schaffen und sind mehr dem Urtheile Anderer unterworfen. Dergleichen Arbeiten bilden mehr eine Unterhaltung für Frauen; junge Mädchen werden nie daran großes Vergnügen finden.
    Mit diesen freiwilligen Arbeiten läßt sich nun leicht das Zeichnen verbinden, denn diese Kunst ist für Jeden, der sich geschmackvoll zu kleiden wünscht, durchaus nicht gleichgiltig. Ich würde aber freilich wünschen, daß man sie nicht Landschaften, noch weniger aber Figuren zeichnen ließe. Blätter, Früchte, Blumen, Faltenwurf, kurz Alles, was zur äußeren Zier der Kleidung dienen kann, so wie die Fähigkeit, sich selbst ein Stickmuster zu entwerfen, wenn man kein passendes aufzutreiben vermag, das ist für sievöllig genügend. Wenn sich die Männer schon im Allgemeinen auf das Studium nützlicher Kenntnisse beschränken sollen, so gilt dies für die Frauen in noch höherem Maße. Denn wenn ihr Leben auch weniger mühevoll ist, so soll sich ihre Thätigkeit doch auf mancherlei Sorgen erstrecken und soll stets unermüdlich sein, so daß sie sich zum Nachtheile ihrer Pflichten nie einer Lieblingsbeschäftigung vorherrschend widmen dürfen.
    Was man dagegen auch sagen mag: der gesunde Menschenverstand ist beiden Geschlechtern gleich eigen. Die Mädchen sind im Allgemeinen gelehriger als die Knaben, und man bedarf bei ihnen sogar größere Autorität. Freilich darf man von ihnen nicht etwas fordern, dessen Nützlichkeit sie nicht einsehen. Die Kunst der Mutter besteht eben darin, ihnen von Allem, was sie anordnet, den Nutzen zu zeigen, und dies ist um so leichter, da sich bei den Mädchen das Verständniß frühzeitiger entwickelt als bei den Knaben. Deshalb belästige man Knaben sowol wie Mädchen nicht mit einem müßigen Studium, das zu nichts Nützlichem führt und sogar Solche, die es betreiben, bei Anderen nicht einmal angenehm macht. Aber auch ein solches Studium ist nicht zu empfehlen, dessen Nutzen in diesem Alter noch nicht einleuchtet, da das Kind noch nicht befähigt ist, sich auf einen späteren Standpunkt zu stellen. Wenn ich nicht wünsche, daß man einen Knaben ängstlich anhalte, lesen zu lernen, so wünsche ich noch viel weniger, daß man ein junges Mädchen dazu zwinge, bevor es den Nutzen des Lesens hat einsehen lernen. Freilich, bei der Art, wie man ihm diesen Nutzen begreiflich machen will, folgt man mehr seinen eigenen Begriffen als der kindlichen Anschauungsweise. Aber worin liegt denn die Nothwendigkeit, daß ein Mädchen so früh lesen und schreiben lernt? Soll es denn in kurzer Zeit eine Wirtschaft führen? Es gibt nur sehr wenige, welche keinen Mißbrauch mit dieser bedenklichen Kunst treiben. Man sollte sie nicht zwingen; sie werden dieselbe schon lernen, sobald sich Zeit und Gelegenheit findet; dafür sind sie insgesammt viel zu neugierig. Vielleicht sollten sie zunächst rechnen lernen, denn nichts ist in allen Lebenslagen nützlicher, aber auchzugleich schwieriger und so dem Irrthume unterworfen als das Rechnen. Wenn die Kleine ihre Kirschen zum Vesperbrode erst dann bekäme, wenn sie ein Rechenexempel gelöst, so glaube ich sicher, daß sie bald würde rechnen lernen.

    Ich kenne ein junges Mädchen, welches eher schreiben als lesen lernte und mit der Nadel zu schreiben anfing, bevor sie die Feder zu führen vermochte. Von allen Schriftlichen wollte es zuerst nur das O nachmalen. Es schrieb beständig große und kleine O, schrieb sie von allen möglichen Größen, zwängte ein O in das andere hinein und schrieb dabei regelmäßig von rechts nach links. Unglücklicherweise sah es sich eines Tages, während es sich dieser nützlichen Beschäftigung hingab, im Spiegel; da machte die Kleine die Entdeckung, daß ihr die gekrümmte Haltung ein schlechtes Aussehen gab. Wie eine Minerva warf sie die Feder weg und wollte keine O mehr schreiben. Auch ihr Bruder fand kein Wohlgefallen am Schreiben. Ihn hielt jedoch weniger das ungeschickte Aussehen davon ab als der damit verbundene Zwang. Man brachte nun das Mädchen wieder auf folgende Weise zum Schreiben. Es war sehr eigen und wollte

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