Emil oder Ueber die Erziehung
Dieses Herkommen war ein vernünftigeres und besseres Mittel zur Aufrechterhaltung der Sitten. Eine gewisse Coquetterie ist heiratsfähigen Mädchen erlaubt; Vergnügungen sind für sie bis jetzt noch die Hauptsache. Die Frauen werden von anderen Sorgen in Anspruch genommen, denn sie haben keinen Mann mehr zu suchen. Aber mit dieser Reform würden sie ihre Rechnung nicht finden, und unglückseligerweise geben sie den Ton an. Ihr Mütter, macht euch wenigstens zu Gefährtinnen eurer Töchter! Gebt ihnen einen gesunden Sinn und ein reines Herz, und dann haltet ihnennichts verborgen, was ein keusches Auge erblicken darf. Bälle, Gastereien, Spiele, selbst das Theater, kurz Alles, was bei unzulänglicher Kenntniß auf die unerfahrene Jugend einen so bestrickenden Reiz ausüben kann, darf unschuldigen Augen ohne Gefahr vorgeführt werden. Je vollständiger sie dergleichen rauschende Vergnügungen kennen lernen, desto eher werden ihnen dieselben langweilig erscheinen.
Ich vernehme im Geiste schon das Geschrei, welches gegen mich erhoben werden wird. »Welch Mädchen vermöchte wol solchen gefährlichen Beispielen zu widerstehen? Kaum haben sie etwas von der Welt kennen gelernt, so schwindelt ihnen Allen der Kopf. Nicht ein einziges möchte ihr entsagen!« Das ist wol möglich. Habt ihr ihnen indeß auch, bevor ihr ihnen dieses trügerische Bild vorhieltet, eine gründliche Vorbereitung gegeben, damit sie es ohne Aufregung anzusehen vermochten? Habt ihr sie auf die Gegenstände, welche ihnen auf demselben entgegentreten, gehörig aufmerksam gemacht? Habt ihr sie ihnen in ihrer vollen Wirklichkeit dargestellt? Habt ihr sie gegen die Täuschungen der Eitelkeit hinreichend gewaffnet? Habt ihr ihren jungen Herzen den Geschmack an den wahren Freuden eingeimpft, welche man in dem Geräusche dieser Welt nie zu fühlen vermag? Welche Vorsichtsmaßregeln habt ihr getroffen, welche Schritte gethan, um sie vor dem falschen Geschmacke zu bewahren, der sie doch nur irre leiten kann? Aber statt in ihrem Geiste die Herrschaft der allgemeinen Vorurtheile zu brechen, habt ihr denselben nur Nahrung gegeben. Schon im Voraus habt ihr ihnen an all den frivolen Belustigungen, die sich ihnen darbieten werden, Gefallen eingeflößt. Noch während sie sich denselben schon überlassen, erhöht ihr ihr Wohlgefallen an denselben. Junge Mädchen, die in die Welt eintreten, haben nur ihre Mütter zu Führerinnen, die oft noch weit seltsamere Anschauungen hegen als die Töchter und ihnen die Dinge unter keinem anderen Gesichtspunkte zu zeigen vermögen, als unter dem sie diese selbst erblicken. Das Beispiel, welches ihnen dieselben geben und das auf sie eine größere Gewalt als die Vernunft selbst ausübt,rechtfertigt sie in ihren eigenen Augen, denn die Autorität der Mutter dient der Tochter als unwiderlegliche Entschuldigung. Wenn trotzdem auch ich den Wunsch hege, daß die Mutter ihre Tochter in die Welt einführe, so geschieht dies selbstverständlich in der Voraussetzung, daß sie ihr diese so zeigt, wie sie in Wirklichkeit beschaffen ist.
Das Uebel hebt sogar noch früher an. Die Klöster sind die eigentlichen Schulen der Coquetterie, nicht etwa jener unschuldigen Gefallsucht, deren ich bereits Erwähnung gethan, sondern derjenigen Coquetterie, in welcher alle Verkehrtheiten der Frauen ihre Wurzel haben und die die Schuld an den Verschrobenheiten unserer heutigen eleganten Damenwelt trägt. Scheiden die jungen Mädchen aus dem Kloster, um aus ihm unmittelbar in das geräuschvolle Gesellschaftsleben einzutreten, so fühlen sie sich von Anfang an ganz an ihrem Platze. Sie sind für ein Leben in der Welt erzogen worden. Darf es uns also Wunder nehmen, wenn sie sich in ihr wohl fühlen? Ich will das, was ich sogleich sagen werde, zwar nicht mit apodiktischer Gewißheit behaupten, wenn ich auch nicht die Befürchtung hege, ein eingesogenes Vorurtheil für eine Beobachtung zu halten, allein es macht den Eindruck auf mich, als ob es in den protestantischen Ländern im Allgemeinen eine größere Anhänglichkeit an die Familie, würdigere Gattinnen und zärtlichere Mütter gebe als in den katholischen; und wenn es sich so verhält, so kann es keinem Zweifel unterliegen; daß diesen Unterschied zum Theil die klösterliche Erziehung zu verantworten hat.
Um den stillen Frieden eines häuslichen Lebens lieb zu gewinnen, muß man es kennen, muß man die Süßigkeit desselben von Kindheit an empfunden haben. Nur im väterlichen Hause lernt man an seinem
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