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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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eigenen Gefallen finden; nur einer Frau, welche von ihrer eigenen Mutter erzogen ist, wird es eine Freude sein, die Erziehung ihrer Kinder selbst zu leiten. Leider gibt es in den großen Städten keine häusliche Erziehung mehr. Die Gesellschaft besteht hier aus so verschiedenen Elementen und ist so gemischt, daß man sich nicht einmal ein verstecktes Plätzchen für sich selbst zu sichern vermag und im eigenen Hausewie in der Öffentlichkeit lebt. Da man sich gezwungen sieht, mit aller Welt zu leben, so hat man keine Familie mehr; kaum kennt man noch die Glieder derselben. Man sieht sie nur als Fremde, und die Einfalt der häuslichen Sitten erlischt mit der süßen Vertraulichkeit, die ihren Hauptreiz bildet. So saugt man schon mit der Muttermilch den Geschmack an den Vergnügungen des Jahrhunderts und an den Grundsätzen ein, welche in ihm zur Herrschaft gelangt sind.

    Man unterwirft die Mädchen einem scheinbaren Zwange, um solcher Thoren habhaft zu werden, welche sie ihres äußeren Anstandes wegen heirathen. Allein studirt nur einen Augenblick diese jungen Damen. Unter dem Scheine äußerlicher Ruhe verhüllen sie nur schlecht die Lüsternheit, welche sie verzehrt. Schon leuchtet aus ihren Augen das glühende Verlangen hervor, das Beispiel ihrer Mütter zu befolgen. Der Gegenstand ihrer Begehrlichkeit ist nicht ein Gatte, sondern die Ungebundenheit, der sie sich in der Ehe meinen hingeben zu können. Bedarf man etwa eines Gatten, wenn Einem so viele Hilfsmittel zu Gebote stehen, die denselben völlig entbehrlich machen? Man bedarf desselben nur, um eben diese Hilfsmittel verdecken zu können. [13] Sittsamkeit steht auf ihrem Antlitze geschrieben, aber Zügellosigkeit wohnt in der Tiefe ihres Herzens. Ein Anzeichen der Letzteren tritt schon in diesem angenommenen Scheine der Sittsamkeit hervor; sie nehmen ihn nur an, um sich desto eher von ihr frei machen zu können. Verzeiht mir, ihr Frauen von Paris und London, ich bitte dringend darum, kein Ort schließt Wunder aus, nur habe ich meinerseits noch keines kennen gelernt; und wenn auch nur eine Einzige unter euch ein wahrhaft sittsames Herz besitzt, dann verstehe ich mich auf unsere Einrichtungen nicht.
    Alle diese verschiedenen Erziehungsarten tragen in gleicher Weise daran Schuld, daß die jungen Mädchen anden Vergnügungen der großen Welt Gefallen finden und sich den Leidenschaften überlassen, welche sich in Folge dessen bei ihnen einstellen. In den großen Städten beginnt die Verdorbenheit mit dem Eintritt in das Leben, in den kleinen mit dem Eintritt in das Alter der Vernunft. Die jungen Mädchen aus der Provinz, die man mit Geringschätzung gegen die glückliche Einfachheit ihrer Sitten erfüllt hat, eilen nach Paris, um an der Verderbtheit der unsrigen Theil zu nehmen. Die Aneignung des Lasters, welches man mit dem schönen Namen Talent schmückt, bildet den einzigen Zweck ihrer Reise. Voller Scham, bei ihrer Ankunft noch so wenig von den lockeren Sitten der eleganten Frauenwelt an sich zu haben, säumen sie nicht, sich so bald wie möglich in vollendete Großstädterinnen zu verwandeln. Wo beginnt nun eurer Ansicht nach das Uebel, dort, wo man den Plan dazu faßt, oder wo es zur Ausführung gelangt?
    Ich halte es nicht für gut, daß eine vernünftige Mutter aus der Provinz ihre Tochter nach Paris führt, um ihr diese für Andere so verderblichen Bilder zu zeigen. Sollte es indeß doch vorkommen, so behaupte ich, daß die Tochter dann entweder eine schlechte Erziehung erhalten hat, oder daß ihr diese Bilder wenig Gefahr bereiten werden. Besitzt man Geschmack, Verstand und Liebe für das Sittsame, so findet man dieselben nicht so verlockend, wie sie es für diejenigen sind, welche sich von ihnen bestricken lassen. Man kann ja in Paris freilich genug dergleichen unverständiger Mädchen antreffen, welche so schnell wie möglich den größstädtischen Ton anzunehmen suchen und auch wirklich sechs Monate lang als Modedamen Bewunderung erregen, um dann für ihre ganze übrige Lebenszeit der Welt als Zielscheibe zu dienen; wer aber bemerkt diejenigen, welche, angewidert von all diesem lärmenden Treiben, in ihre Provinz zurückkehren und sich mit ihrem Loose zufrieden fühlen, nachdem sie Gelegenheit gehabt hatten, es mit dem so vielfach beneideten der großen Welt zu vergleichen? Wie viele junge Frauen habe ich kennen gelernt, die von ihren Männern in der Absicht, ihnen eine Freude zu bereiten, nach der Hauptstadt geführt waren, da ihnen ihre Mittel

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