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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ein sittsames und verständiges Mädchen!« Weilt man aber erst länger in ihrer Nähe, dann schweifen die Augen, welche nur zu deutlich verkündigen, was imHerzen vorgeht, fortwährend über ihre ganze Person und sind nicht im Stande, sich wieder von ihr loszureißen. Man hätte zu behaupten Lust, dieser ganze so einfache Anzug sei nur angelegt, um in der Phantasie Stück für Stück wieder weggenommen zu werden.
    Sophie besitzt natürliche Talente. Sie ist sich derselben bewußt und hat sie nicht vernachlässigt. Da sie sich indeß nicht in der Lage befand, viel Kunst auf die Ausbildung derselben zu verwenden, so hat sie sich damit begnügt, ihr hübsches Stimmchen in richtigem und geschmackvollem Gesange, ihre kleinen Füßchen in leichtem, schwebendem und anmuthigem Gange zu üben und alle Begrüßungsformen zwanglos und sicher auszuführen. Uebrigens hat sie zum Gesanglehrer nur ihren Vater, zur Tanzlehrerin nur ihre Mutter gehabt, und ein Organist aus der Nachbarschaft hat ihr einige Lectionen ertheilt, um sich zu ihrem Gesange auf dem Claviere selbst begleiten zu können, worin sie sich seitdem allein weiter fortgebildet hat. Anfangs hatte sie nur im Sinne, ihre weiße Hand auf den schwarzen Tasten mit Vortheil zu zeigen, [17] dann entdeckte sie, daß der scharfe und schrille Ton des Claviers den Ton ihrer Stimme sanfter klingen ließ, allmählich wurde sie für die Harmonie empfänglich, und als sie heranwuchs, fing sie endlich an, die Reize des Ausdrucks herauszufühlen und die Musik um ihrer selbst willen zu lieben. Aber dies ist eigentlich mehr eine Neigung als ein Talent, denn die Noten sind ihr völlig unbekannt.
    Was Sophie indeß am allerbesten versteht und worin man sie am sorgfältigsten unterrichtet hat, das sind die weiblichen Handarbeiten, selbst diejenigen, welchen man gewöhnlich weniger Aufmerksamkeit zuwendet, wie die Kunst, sich ihre Kleider selbst zuzuschneiden und zu nähen. Es gibt keine Nadelarbeit, die ihr unbekannt wäre und deren Anfertigung ihr nicht Vergnügen machte. IhreLieblingsbeschäftigung ist jedoch das Spitzenklöppeln, weil andere Arbeit zu einer so anmuthigen Körperhaltung nöthigt und die Finger in so zierlicher und leichter Bewegung erhält. In gleicher Weise hat sie sich alle Einzelheiten der Hauswirthschaft angelegen sein lassen. Küche und Speisekammer stehen unter ihrer Leitung. Sie kennt die Preise der Lebensmittel und versteht sich auf ihre Güte, ist mit der Buchführung vertraut und dient ihrer Mutter als Haushofmeister. Bestimmt, selbst einst Hausfrau zu werden, lernt sie in der Leitung des väterlichen Hauswesens ihrem eigenen wohl vorstehen. Sie kann den Dienern bei ihren Geschäften helfend zur Seite stehen und thut es stets gern. Nur zu dem, was man selbst auszuführen versteht, kann man die richtigen Anordnungen treffen. Aus diesem Grunde erhält ihre Mutter sie in ununterbrochener Geschäftigkeit. Sophiens Gedanken sind allerdings noch nicht so weit in die Ferne gerichtet. Ihr einziges Sinnen geht darauf aus, ihrer Mutter zu dienen und ihr einen Theil ihrer Sorgen abzunehmen. Freilich läßt sich nicht läugnen, daß sie nicht alle mit dem gleichen Vergnügen verrichtet. So hat sie z.B., eine so große Feinschmeckerin sie auch ist, an dem Küchenwesen wenig Gefallen. Die dabei vorkommenden groben Arbeiten haben für sie etwas Widriges. Es geht ihr in der Küche nie sauber genug zu. Sie ist in diesem Punkte von einer übertriebenen Zartheit, und diese bis zum Aeußersten getriebene Zartheit hat förmlich den Charakter eines Fehlers angenommen. Eher ließe sie das ganze Mittagsessen in das Feuer laufen, als daß sie ihre Manschette beschmutzte. Aus demselben Grunde hat sie sich stets gegen die Oberaufsicht über den Garten gesträubt. Die Erde erscheint ihr unreinlich; sobald sie nur einen Düngerhaufen sieht, bildet sie sich schon ein, seinen unangenehmen Geruch wahrzunehmen.
    An diesem Fehler trägt der Unterricht der Mutter die Schuld. Nach der Ansicht der Letzteren gehört die Reinlichkeit zu den ersten Pflichten des Weibes, ist sie eine besondere, unabweisbare und von der Natur ihm selbst auferlegte Pflicht. Es gibt nichts Widerwärtigeres in der Welt als ein unreinliches Weib, und der Mann, der sichmit Ekel von ihm abwendet, hat nie Unrecht. Sie hat ihrer Tochter diese Pflicht von Kindheit auf so unermüdlich vorgepredigt, hat von ihr so streng Reinlichkeit in Bezug auf ihre eigene Person, wie auf ihre Kleider, ihr Zimmer, ihre Arbeit, ihre Toilette

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