Emil oder Ueber die Erziehung
gefordert, daß die zur Beobachtung dieser Pflicht ununterbrochen nöthige Aufmerksamkeit, welche bereits zur Gewohnheit geworden ist, einen ziemlich großen Theil ihrer Zeit allein für sich in Anspruch nimmt und auch in dem übrigen stets die erste Rolle spielt. Daher läßt sie die gute Ausführung dessen, was sie unternimmt, erst ihre zweite Sorge sein; ihre erste Sorge geht stets darauf aus, es reinlich zu machen.
Indeß trägt dies Alles nicht den Charakter der Ziererei an sich und ist nicht in Schwäche ausgeartet. Die übertriebene Verfeinerung des Luxus hat in ihren Augen keinen Werth. Nie kommt anderes als einfaches Wasser in ihr Zimmer. Sie kennt keinen anderen Wohlgeruch als den der Blumen, und nie wird ihr Gatte etwas Süßeres athmen als ihren Odem. Endlich läßt die Aufmerksamkeit, welche sie auf das Aeußere verwendet, sie nicht vergessen, daß sie ihr Leben und ihre Zeit in den Dienst edlerer Sorgen zu stellen hat. Jene alles Maß übersteigende körperliche Reinlichkeit, welche die Seele besudelt, kennt sie nicht oder verachtet sie. Sophie ist mehr als nur reinlich, sie ist rein.
Wie ich bereits erwähnt habe, war Sophie Feinschmeckerin. Sie war es von Natur; aber in Folge der Gewöhnung ist sie frugal geworden, und jetzt ist sie es aus Sittsamkeit. Es verhält sich in dieser Hinsicht mit den Mädchen nicht wie mit den Knaben, daß man sie durch Feinschmeckerei bis zu einem gewissen Grade leiten könnte. Diese Neigung bleibt für das weibliche Geschlecht nicht ohne Folgen; es ist mit großer Gefahr verbunden, sie ihm zu lassen. Wenn in ihrer Kindheit die kleine Sophie allein in das Cabinet ihrer Mutter kam, so kehrte sie aus demselben nie mit leeren Händen zurück, und in Betreff auf Confect und Bonbons ließ ihre Gewissenhaftigkeit Manches zu wünschen übrig. Ihre Mutter ertappte sie, schalt sie aus, bestrafte sie, ließ sie fasten. Endlich gelangte siedadurch zum Ziele, daß sie ihrem Töchterchen einredete, die Bonbons verdürben die Zähne und das viele Essen triebe den Leib auf. Dies fruchtete und Sophie besserte sich. Als sie heranwuchs, traten bei ihr andere Neigungen hervor und brachten sie von dieser niedrigen Sinnlichkeit zurück. Mit einem Schlage verliert das Laster der Feinschmeckerei seine Herrschaft über Männer wie Frauen, sobald das Herz sich zu regen beginnt. Sophie hat sich den ihrem Geschlechte eigenen Geschmack bewahrt. Sie liebt Milchspeisen und Süßigkeiten, Gebackenes und Zwischenspeisen, findet aber am Fleische wenig Behagen. Nie hat sie Wein oder geistige Getränke über die Lippen gebracht. Uebrigens ißt sie von Allem nur sehr mäßig. Da ihr Geschlecht weniger mühselige Arbeiten zu verrichten hat als das unserige, so braucht es für die verlorenen Kräfte auch einen geringeren Ersatz. In Allem liebt sie das Gute und weiß es zu würdigen; doch weiß sie auch, ohne daß ihr eine solche Entbehrung schwer fällt, mit dem vorlieb zu nehmen, was nicht so gut ist.
Sophie hat einen fesselnden Geist, ohne daß er blendend wäre; er ist gediegen, ohne tief zu sein; kurz, sie hat einen Geist, von dem sich nichts sagen läßt, weil Jeder an ihm nur dieselben Eigenschaften entdeckt, die er auch an seinem eigenen Geiste wahrnimmt. So gefällt denn ihr Geist stets denen, mit welchen sie sich unterredet, obgleich er nicht die reiche Bildung verräth, welche nach unserer Vorstellung die richtige Geistespflege den Frauen verleihen muß. Denn ihr Geist verdankt seine Bildung nicht der Lectüre, sondern einzig und allein den Gesprächen mit Vater und Mutter, den eigenen Betrachtungen und Beobachtungen, die sie in dem kleinen Kreise der Welt angestellt hat, welchen zu sehen ihr bisher Gelegenheit geboten war. Sophie ist von Natur heiter, ja in ihrer Kindheit war sie sogar ausgelassen. Aber ihre Mutter hat sich bemüht, ihr leichtsinniges Wesen nach und nach zu dämpfen, damit nicht bald ein vielleicht zu plötzlich eintretender Wechsel sie über den Augenblick belehren möchte, welcher es zu gebieterischer Nothwendigkeit gemacht hätte. Sie ist seitdem sehr sittsam und sogar noch vor der Zeit zurückhaltendgeworden; und jetzt, wo dieser Zeitpunkt gekommen ist, fällt es ihr nun weit leichter, den bereits angenommenen Ton beizubehalten, als es ihr geworden wäre, ihn erst anzunehmen, ohne die Ursache dieses Wechsels durchblicken zu lassen. Es bietet einen anmuthigen Anblick dar, wenn mitunter die alten Gewohnheiten in ihr wieder wach werden und sie sich der vollen Lebhaftigkeit
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