Emil oder Ueber die Erziehung
Beruhigungsmittel einen Bruch zuziehen, und zum Beweise will ich nur den Umstand anführen, daß gerade die vernachlässigtsten Kinder weniger häufig, als andere, mit diesem Uebel behaftet sind. Ich bin weit davon entfernt deshalb zu wünschen, daß man sie vernachlässige; es ist im Gegentheile von Wichtigkeit, daß man ihnen zuvorkomme und sich nicht erst durch ihr Geschrei auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen lasse. Aber ich will eben so wenig, daß die Sorgfalt, die man ihnen erweist, am unrechten Platze sei. Warum sollten sie sich des Weinens enthalten, wenn sie erst einsehen, welche Vortheile sie durch ihre Thränen erreichen können? Gar gut mit dem Preise bekannt, welchen man auf ihr Stillsein setzt, hüten sie sich, allzu verschwenderisch damit zu sein. Sie steigern ihn endlich in dem Maße, daß man ihn nicht mehr zu zahlen vermag, und dann tritt die Gefahr ein, daß sie sich durch vergeblichesWeinen übermäßig anstrengen, erschöpfen, ja selbst tödten.
Unausgesetztes Weinen eines Kindes, welches weder eingeschnürt, noch krank ist und welchem man es an nichts fehlen läßt, rührt nur von Gewohnheit und Eigensinn her. Die Schuld trägt nicht die Natur, sondern die Amme, welche, weil sie sich nicht Mühe geben will, die kleine Unannehmlichkeit desselben zu ertragen, es lieber vermehrt, ohne zu bedenken, daß man das Kind gerade dadurch, daß man es heute zum Schweigen bringt, erst recht anstachelt, morgen desto mehr zu weinen.
Das einzige Mittel dieser schlechten Gewohnheit abzuhelfen oder ihr von vorn herein vorzubeugen, besteht darin, gar nicht darauf zu merken. Niemand unterzieht sich gern einer vergeblichen Mühe, nicht einmal die Kinder. Sie hören freilich in ihren Versuchen nicht sogleich auf, besitzt man indeß nur mehr Beharrlichkeit als sie Hartnäckigkeit, so ermüden sie bald und wiederholen dieselben nicht mehr. Auf diese Weise erspart man ihnen Thränen und gewöhnt sie, sie nur dann zu vergießen, wenn der Schmerz sie ihnen wirklich auspreßt.
Will man übrigens Kindern, die aus Launenhaftigkeit oder Eigensinn weinen, abhalten, darin fortzufahren, so ist ein sicheres Mittel, sie durch einen hübschen und in die Augen fallenden Gegenstand, der sie ihre Absicht zu weinen vergessen läßt, zu zerstreuen. Die meisten Ammen glänzen in dieser Kunst, und behutsam und nicht zu häufig angewandt, ist sie von großem Nutzen; dabei ist es jedoch von äußerster Wichtigkeit, daß das Kind nicht die Absicht, es zu zerstreuen, merke, daß das Kind sich unterhalte, ohne zu glauben, daß man es beobachte. Nun sind aber gerade in letzterer Hinsicht alle Ammen höchst ungeschickt.
Man entwöhnt die Kinder ohne Ausnahme zu früh. Der naturgemäße Zeitpunkt der Entwöhnung wird durch den Durchbruch der Zähne angezeigt, welcher gewöhnlich mit Schmerzen und mit Beschwerden verbunden ist. Instinctmäßig führt dann das Kind Alles, was es in den Händen hält, öfters nach dem Munde, um daran zu kauen. Man denkt dem Kind das Zahnen zu erleichtern, wennman ihm irgend einen harten Körper, wie Elfenbein oder Wolfszähne, zum Spielzeug gibt. Meiner Ansicht nach täuscht man sich. Anstatt das Zahnfleisch zu erweichen, machen diese harten Körper dasselbe vielmehr schwielig, verhärten es und erhöhen die Schmerzen und Beschwerden des Durchbruchs. Nehmen wir uns nur immer den Instinct zum Muster. Man sieht nie, daß junge Hunde ihre hervorbrechenden Zähne an Kieselsteinen, Eisen oder Knochen üben, sondern an Holz, Leder, Lumpen und weichen nachgibigen Stoffen, in welche sich der Zahn eindrücken kann.
Auf allen Gebieten ist die Einfachheit verschwunden, selbst aus der Kinderstube. Schellen von Silber, von Gold, von Korallen, von geschliffenem Kristall, Klappern von jedem Preise und jeder Gattung, was für unnützes und verderbliches Zeug! Fort mit all’ diesem Krame! Fort mit den Schellen! Fort mit den Klappern! Kleine Baumzweige mit ihren Früchten und Blättern, ein Mohnkopf, in welchem man die Samenkörner klappern hört, ein Stück Süßholz, an dem es saugen und kauen kann, werden es in eben so großes Entzücken versetzen als all diese prächtigen Schnurrpfeifereien, und sind vor allen Dingen nicht mit dem Uebelstande verbunden, es schon von Geburt an den Luxus zu gewöhnen.
Man hat allgemein anerkannt, daß Brei keine allzu gesunde Nahrung ist. Abgekochte Milch und Mehl in noch halbrohem Zustande sagen dem Magen nicht zu und verderben ihn. Im Brei ist das Mehl weniger zubereitet und
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