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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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vermag? Welcher von Liebe beseelte Mann wünscht wol die, welche er liebt, zu verderben? Welcher redliche Mann kann ein Gefallen darin finden, daß eine Unglückliche zeitlebens den Unstern, ihm gefallen zu haben, beweinen muß?
    Erschreckt über die Folgen, die ich ihm vorhalte, glaubt schon der junge Mann, der sich immer gern in Extremen bewegt, nie fern genug von Sophiens Wohnsitze sein zu können. Er verdoppelt seine Schritte, um schneller zu entfliehen; er sieht sich um, ob uns auch Niemand gehört hat. Er würde sein Glück tausendmal für die Ehre seiner Geliebten zum Opfer bringen. Lieber wollte er sie in seinem Leben nicht wiedersehen, als daß er ihr auch nur ein einziges Mal Veranlassung zum Kummer gäbe. – Es ist die erste Frucht der Mühe, die ich seit seiner Jugend darauf verwandt, habe, sein Herz zu bilden, daß es zu lieben fähig ist.
    Es handelt sich also darum; einen weder zu nah noch zu fern gelegenen Aufenthaltsort aufzufinden. Wir gehenselbst auf Entdeckungen aus, ziehen Erkundigungen ein und erfahren, daß zwei starke Stunden von hier eine Stadt liegt. Wir machen uns auf den Weg, um uns lieber dort, als in den näher gelegenen Dörfern, wo unser Aufenthalt Verdacht erregen könnte, nach einer Wohnung umzusehen. Voller Liebe, Hoffnung, Freude und vor Allem voller edler Gesinnungen, langt endlich Sophiens Verehrer daselbst an. Jetzt lasse ich es mein Bemühen sein, seine entstehende Leidenschaft allmählich auf das Gute und Ehrenwerthe zu lenken und allen seinen Neigungen den Antrieb zu geben, dieselbe Richtung einzuschlagen.

    Ich nähere mich dem Ziele der mir gestellten Aufgabe. Ich sehe es schon in der Ferne vor mir. Alle Hauptschwierigkeiten sind überwunden, alle Haupthindernisse aus dem Wege geräumt. Die einzige Schwierigkeit, die mir noch übrig bleibt, besteht darin, daß ich nicht etwa durch das übereilte Bestreben, mein Werk zu vollenden, dasselbe verderbe. Laßt uns bei der Unsicherheit des menschlichen Lebens namentlich die falsche Klugheit vermeiden, die Gegenwart der Zukunft zu opfern. Häufig heißt das nichts Anderes als das, was ist, dem opfern, was nie sein wird. Laßt uns den Menschen in allen Lebensaltern glücklich machen, damit er nicht etwa nach vielen Sorgen dem Tode zur Beute fällt, ohne es je geworden zu sein. Und gibt es eine zum Lebensgenuß geeignete Zeit, so ist es sicherlich das Ende der Jünglingsjahre, wo sich die leiblichen wie die geistigen Fähigkeiten zu ihrer größten Kraft entfaltet haben, und wo der Mensch inmitten seiner Lebensbahn von Ferne die beiden Endpunkte wahrnimmt, die ihm die Kürze derselben zum Bewußtsein bringen. Wenn die unerfahrene Jugend sich täuscht, so liegt ihr Irrthum nicht dann, daß sie überhaupt auf Genuß ausgeht, sondern darin, daß sie ihn da sucht, wo er nicht zu finden ist, und daß sie sich nicht nur eine elende Zukunft bereitet, sondern auch nicht einmal die Gegenwart zu benutzen versteht.
    Betrachtet meinen Emil in seinem zurückgelegten zwanzigsten Jahre. Er ist von schönem Wuchs, gesundem Leib und Seele, stark, behend, geschickt, kräftig, voller Gefühl,Verstand, Güte und Menschenfreundlichkeit. Er zeichnet sich durch gute Sitten und Geschmack aus, liebt das Schöne, thut das Gute. Er ist frei von der Herrschaft grausamer Leidenschaften, unabhängig von dem Joche der allgemeinen Meinung, aber dem Gesetze der Weisheit unterworfen. Er ist nachgibig gegen die Stimme der Freundschaft, besitzt alle nützliche und außerdem mehrere gefällige Talente. Nach Reichthum fragt er nicht viel, da er seine Hilfsquellen in seinen Armen trägt und sich nicht der Furcht hinzugeben braucht, es könne ihm je an Brod fehlen, was sich auch ereignen möge. Jetzt zeigt er sich uns freilich im Rausche einer erwachenden Leidenschaft. Sein Herz öffnet sich der ersten Liebesglut. Seine süßen Illusionen zaubern ihm eine neue Welt von Freuden und Genüssen vor. Er liebt ein liebenswürdiges Mädchen, liebenswürdiger noch seinem Charakter als seiner Person nach. Er hofft, er rechnet auf Gegenliebe, die man ihm seinem Gefühle nach schuldig ist. Aus der Übereinstimmung der Herzen, aus dem Zusammentreffen edler Gesinnungen ist ihre erste Neigung aufgekeimt. Diese Neigung soll Bestand haben. Mit Vertrauen, mit einer Art Genugthuung überläßt er sich diesem reizendsten Wahne, ohne Furcht, ohne Bedauern, ohne Gewissensbisse, ohne eine andere Unruhe als diejenige, welche sich dem Gefühle des Glückes unzertrennlich beigesellt. Was kann

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