Emil oder Ueber die Erziehung
verstrichen, seit sich unsere jungen Leute zum ersten Male gesehen haben; noch kein einziges Wort haben sie mit einander gewechselt, und schon kann man bemerken, daß sie einander verstehen. Ihr Entgegenkommen deutet auf keine Vertraulichkeit hin, es verräth Verlegenheit und Schüchternheit; sie reden einander nicht an, ihre niedergeschlagenen Augen scheinen einander zu vermeiden, allein gerade das ist ein Zeichen ihres Einverständnisses. Sie gehen sich aus dem Wege, aber wie verabredetermaßen; sie fühlen schon das Bedürfniß, sich in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen, ehe es noch etwas zu verheimlichen gibt. Als wir uns verabschieden, bitten wir um die Erlaubnis, das Geliehene persönlich zurückbringen zu dürfen. Emils Mund erbittet diese Erlaubniß vom Vater und von der Mutter, während sich seine unruhigen Augen auf die Tochter heften und sie noch weit inständiger darum bitten. Sophie sagt nichts, gibt kein Zeichen, scheint nichts zu sehen noch zu hören, allein sie erröthet, und dieses Erröthen ist eine noch klarere Antwort als die ihrer Eltern.
Man gestattet uns wiederzukommen, ohne uns jedochzum Bleiben einzuladen. Dies Verhalten ist ganz schicklich; man gibt wol Reisenden, die um ein Nachtlager verlegen sind, Herberge, allein es paßt sich nicht, daß ein Liebender im Hause seiner Geliebten schläft.
Kaum haben wir das uns so lieb gewordene Haus im Rücken, so schmiedet Emil schon Pläne, in der Umgegend seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Die nächste Strohhütte scheint ihm schon zu entfernt zu liegen; er hätte Lust, sich ein Nachtlager im Schloßgraben zu suchen. »Unbesonnener Jüngling,« sage ich zu ihm im Tone des Mitleids, »wie, hast du dich von der Leidenschaft schon verblenden lassen? Schon setzest du dich über Schicklichkeit und Vernunft hinweg! Unglücklicher! Du glaubst zu lieben, und gehst selber darauf aus, die Ehre deiner Geliebten zu beflecken! Was wird man von ihr sagen, wenn man in Erfahrung bringt, daß ein junger Mann, der so eben erst ihr Haus verlassen hat, in der Umgebung desselben schläft? Du liebst sie, wie du behauptest. Kannst du es dir also wol zur Aufgabe stellen, ihren Ruf zu zerstören? Vergiltst du so die Gastfreundschaft, die ihre Eltern dir erwiesen haben? Willst du derjenigen, von der du dem Glück erwartest, Schande bereiten?« – »Ach,« versetzte er lebhaft, »was frage ich nach dem leeren Gerede der Menschen und ihrem ungerechten Urtheile! Haben Sie selbst mich nicht gelehrt, keinen Werth darauf zu legen? Wer kann besser als ich wissen, wie sehr ich Sophie ehre und wie ich nur darauf sinne, ihr meine Achtung zu erweisen? Meine Liebe soll ihr nicht zum Schimpfe, sondern zur Ehre gereichen, sie soll ihrer würdig sein. Wenn mein Herz und meine Aufmerksamkeiten ihr überall die verdiente Huldigung darbringen, wie kann darin ein Schimpf für sie liegen?« – »Lieber Emil,« erwidere ich, ihn umarmend, »du stellst dich bei deinem Urtheile nur auf deinen Standpunkt; lerne aber auch dich auf ihren zu versetzen. Vergleiche die Ehre des einen Geschlechts nicht mit der des andern; bei beiden gelten ganz verschiedene Grundsätze. Diese Grundsätze sind gleich berechtigt und vernünftig, weil sie in gleicher Weise aus der Natur abgeleitet werden, und weil die nämliche Tugend, die dichfür deine eigene Person das Gerede der Menschen verachten läßt, dir die Pflicht auferlegt, es in Bezug auf deine Geliebte zu achten. Deine Ehre beruht in dir allein, die ihrige dagegen ist an das Urtheil Anderer geknüpft. Ihre Ehre nicht fleckenlos erhalten, hieße deine eigene verletzen, und du würdest nicht handeln, wie du es dir selbst schuldig bist, wenn du die Schuld trügest, daß man nicht so gegen sie handelt, wie man es ihr schuldig ist.«
Indem ich ihm darauf die Gründe dieses Unterschieds erkläre, bringe ich es ihm zum Bewußtsein, welche Ungerechtigkeit darin liegen würde, ihnen keinen Werth beizumessen. Wer hat ihm denn schon die Versicherung gegeben, daß er Sophie, deren Gesinnungen gegen ihn er durchaus noch nicht kennt, deren Herz oder deren Eltern vielleicht schon früher über ihre Hand verfügt haben, wirklich als Gemahlin heimführen wird, sie, welche er kaum kennt und die vielleicht in keinem der Stücke, die allein eine Ehe glücklich machen können, mit ihm harmonirt? Weiß er nicht, daß jedes Aergerniß für ein Mädchen ein unauslöschlicher Flecken ist, welchen nicht einmal seine Vermählung mit dem, welcher ihn verschuldet hat, auszuwischen
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