Emil oder Ueber die Erziehung
jungen Mann handelt, den man von Kindheit an zum Spielball der Furcht, der Lüsternheit, des Neides, des Stolzes und all der Leidenschaften, deren man sich bei der gewöhnlichen Erziehung als Werkzeuge bedient, gemacht hat, daß es sich im Gegentheile um einen jungen Mann handelt, dessen Herz hier nicht allein zum ersten Male in Liebe erglüht, sondern der überhaupt zum ersten Male die Gewalt einer Leidenschaft kennen lernt; daß endlich von dieser Leidenschaft, der einzigen vielleicht, welche er in seinem ganzen Leben in ihrer vollen Tiefe empfindet, die letzte Gestalt abhängt, welche sein Charakter annehmen darf. Seine Denkart, seine Gefühle, seine Neigungen, welche eine dauernde Leidenschaft in eine bestimmte Richtung gedrängt hat, sollen jetzt eine Festigkeit gewinnen, die nichts mehr zu erschüttern vermag.
Begreiflicherweise verbrachten Emil und ich die auf einen solchen Abend folgende Nacht nicht völlig mit Schlafen. Weshalb denn nicht? Kann die bloße Übereinstimmung des Namens auf einen vernünftigen Mann eine so große Macht ausüben? Gibt es etwa nur eine Sophie in der Welt? Gleichen sich Alle wie dem Namen so auch der Seele nach? Ist eine Jede, die ihm unter die Augen treten wird, seine Sophie? Ist er ein Narr, daß er für eine Unbekannte, mit welcher er noch kein Wort gewechselthat, eine so leidenschaftliche Liebe faßt? Warte, junger Mann, prüfe, beobachte! Du weißt ja noch nicht einmal, in wessen Hause du dich befindest, und wenn man auf dich hören wollte, so sollte man glauben, du wärest schon in deinem eigenen.
Jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, Belehrungen zu ertheilen, und sie sind auch nicht dazu angethan, Gehör zu finden. Sie sind nur Veranlassung, dem jungen Manne ein neues Interesse für Sophie einzuflößen, da sie das Verlangen in ihm rege machen, seine Neigung zu rechtfertigen. Diese Gleichheit der Namen, diese scheinbar zufällige Begegnung, selbst meine Zurückhaltung reizen nur seine Leidenschaft. Schon erscheint ihm Sophie zu achtungswerth, als daß er sich nicht für überzeugt hielte, es würde ihm gelingen, sie mir in einem solchen Lichte zu zeigen, daß auch ich sie lieb gewinnen müßte.
Allem Vermuthen nach wird sich Emil am nächsten Morgen bemühen, auf seinen schlichten Reiseanzug eine mehr als gewöhnliche Sorgfalt zu verwenden. Es kann gar nicht ausbleiben. Namentlich nöthigt mir die Geschäftigkeit, mit welcher er von der dem Hause gehörenden Wäsche Gebrauch macht, ein Lächeln ab. Ich durchschaue seine Gedanken. Indem er Maßregeln ergreift, die eine Rückerstattung, einen Umtausch nöthig machen, sucht er bereits, wie ich mit Freuden sehe, eine Ursache zum Briefwechsel herbeizuführen, der ihm die Berechtigung gibt, hierher zurückzuschicken oder wol gar selbst zurückzukehren.
Ich hatte mit Sicherheit erwartet, auch Sophie ihrerseits in gewählterer Kleidung erscheinen zu sehen. Indeß hatte ich mich getäuscht. Diese gewöhnliche Art der Coquetterie ist ein Nothbehelf für diejenigen, welche nur gefallen wollen. Die Coquetterie der wahren Liebe ist geläuterter und erhebt ganz andere Ansprüche. Sophie ist noch einfacher, ja selbst nachlässiger als den Abend vorher gekleidet, wenn auch mit der ausgesuchtesten Sauberkeit. In einer solchen Nachlässigkeit vermag ich nur Coquetterie zu erblicken, weil ich darin etwas Gesuchtes sehe. Sophie begreift recht wohl, daß in einer gewählteren Kleidung eine Art Erklärung liegen würde, ahnt indeß nicht, daß einenachlässigere Kleidung ebenfalls eine Erklärung ist, in welcher sich deutlich zu erkennen gibt, daß man sich nicht damit begnügt, durch den Anzug zu gefallen, sondern daß man auch durch seine Person Gefallen erregen will. Was fragt der Liebende auch nach der Kleidung, wenn er nur wahrnimmt, daß man sich mit ihm beschäftigt? Ihrer Herrschaft schon sicher, geht Sophie nicht mehr darauf aus, Emils Aufmerksamkeit durch ihre Reize zu erregen, wenn er nicht selber ein Auge für sie hat. Sie findet ihr Genüge nicht mehr daran, sie ihm sichtbar zu machen, sie verlangt schon, daß er sie voraussetzen soll. Hat er nicht schon genug erblickt, um sich gezwungen zu sehen, die übrigen zu ahnen?
Es läßt sich annehmen, daß sich während unserer nächtlichen Unterhaltung Sophie und ihre Mutter gleichfalls nicht stumm verhalten haben, gab es doch Geständnisse zu entlocken und gute Rathschläge zu ertheilen. Am folgenden Morgen versammelt man sich deshalb wohl vorbereitet. Noch keine zwölf Stunden sind
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