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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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hassen. Sollte er ihn indeß doch hassen, so liegt die Ursache nicht in der Kühnheit, ihm ein Herz, auf welches er Anspruch erhebt, streitig machen zu wollen, sondern in der wirklichen Gefahr, der er sich ausgesetzt sieht, es zu verlieren. Kein ungerechter Stolz wird sich in ihm thörichterweise um deswillen gekränkt fühlen, daß man sich unterfängt, zu demselben Wesen wie er seine Blicke zu erheben. In der richtigen Einsicht, daß sich das Recht auf Bevorzugung einzig und allein auf das Verdienst gründet, und daß die Ehre in dem glücklichen Erfolge liegt, wird er sich doppelte Mühe geben, sich liebenswürdig zu machen, und wahrscheinlich wird er zum Ziele gelangen. Wenn die edle Sophie ihn in Unruhe versetzt und dadurch seine Liebe reizt, so wird sie auch dafür Sorge tragen, daß dieselbe nicht einen zu hohen Grad erreicht, und ihn zu entschädigen wissen. Die Nebenbuhler, welche nur geduldet wurden, ihn auf die Probe zu stellen, werden bald verabschiedet sein.
    Aber wohin bin ich unmerklich gerathen? O Emil, was ist aus dir geworden? Kann ich in dir meinen Zögling wieder erkennen? Wie tief gesunken zeigst du dich mir! Wo ist dieser so streng erzogene Jüngling, welcher den Einflüssen der Jahreszeiten trotzte, seinen Körper durch die beschwerlichsten Arbeiten stählte und seine Seele allein unter die Gesetze der Weisheit stellte? Wo ist er, der, den Vorurtheilen wie den Leidenschaften unzugänglich, nur die Wahrheit liebte, nur der Vernunft folgte und sich nur um sich selbst kümmerte? Jetzt, wo ihn ein müßiges Leben verweichlicht hat, läßt er sich von Frauen leiten! Ihre Belustigungen bilden seine Beschäftigung, ihr Wille giltihm als Gesetz! Ein junges Mädchen gebietet über sein Schicksal. Vor ihm liegt er im Staube und demüthigt er sich! Der ernste Emil ist der Spielball eines Kindes!
    So wechseln im Leben die Scenen. Jedes Alter wird von seinen besonderen Triebfedern in Bewegung gesetzt. Der Mensch aber bleibt stets derselbe. Im zehnten Jahre läßt er sich durch Kuchen lenken, im zwanzigsten durch eine Geliebte, im dreißigsten durch Vergnügungen, im vierzigsten durch Ehrgeiz, im fünfzigsten durch Habsucht. Wann aber jagt er nur der Weisheit nach? Glücklich, wer wider seinen Willen ihr entgegengeführt wird! Was liegt an dem Führer, dessen man sich dabei bedient, wenn er uns nur zum Ziele bringt? Helden, ja sogar Weise haben der menschlichen Schwäche diesen Tribut bezahlt, und Mancher, dessen Finger erst haben die Spindel drehen müssen, ist nichts desto weniger ein großer Mann geworden.
    Wollt ihr die Wirkung einer vorteilhaften Erziehung auf das ganze Leben ausdehnen, so sorget dafür, daß die guten Gewöhnungen der Kindheit bis ins Jünglingsalter beibehalten werden, und ist euer Zögling, was er sein soll, so bemüht euch, daß er zu allen Zeiten derselbe ist. Das ist die letzte Vollendung, die euch eurem Werke noch zu geben übrig bleibt. Namentlich aus diesem Grunde ist es von Wichtigkeit, den jungen Leuten noch einen Führer zu lassen, denn sonst braucht man wol kaum zu befürchten, daß sie ohne seine Anleitung keinen Gegenstand für ihre Liebe finden würden. Die Erzieher, und besonders auch die Väter, huldigen oft der irrtümlichen Anschauung, daß die eine Lebensweise die andere ausschließe, und daß man, sobald man erwachsen ist, sich von Allem lossagen müsse, was man als Kind gethan habe. Verhielte es sich in der That so, wozu würde dann wol die der Kindheit gewidmete Sorgfalt nützen, da die gute oder schlechte Anwendung, welche man von ihr machen könnte, mit ihr aufhören würde, und da man mit einer völlig verschiedenen Lebensweise auch nothwendig eine andere Denkart annehmen müßte?
    Wie nur schwere Krankheiten im Stande sind, die Gedächtnißkraft zu schwächen, so vermögen auch nur großeLeidenschaften eine Lockerung der Sitten zu bewirken. Obgleich unser Geschmack und unsere Neigungen einem Wechsel unterworfen sind, so wird uns derselbe, der mitunter sehr schnell eintritt, doch durch die Art des Uebergangs weniger fühlbar gemacht. Die Aufeinanderfolge unserer Neigungen muß in derselben Weise stattfinden, in welcher ein geschickter Maler bei der Abstufung der Farben verfährt, indem er unmerkliche Uebergänge hervorzubringen weiß, die Tinten mischt und vertheilt, und damit keine derselben zu grell absticht, mehrere über sein ganzes Gemälde verbreitet. Diese Regel findet in der Erfahrung ihre Bestätigung. Unmäßige Leute ändern täglich ihre Neigungen,

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