Emil oder Ueber die Erziehung
Unrecht vorzuwerfen hat, als daß sie nicht gleich beim ersten Male erkannte, was sie nie hätte dulden sollen. Er wird Ihnen erklären, daß Alles, was man als eine Gunst aufnimmt, auch wirklich eine solche wird, und daß es eines Mannes von Ehre unwürdig ist, mit der Einfalt eines jungen Mädchens Mißbrauch zutreiben, um sich unter dem Schleier des Geheimnisses dieselben Freiheiten anzumaßen, die sie vor aller Welt Augen dulden darf. Denn weiß man auch, was der Anstand öffentlich zu thun gestattet, so weiß man doch nie, wobei derjenige, welcher sich zum alleinigen Richter seiner Einfälle aufwirft, unter dem Schatten des Geheimnisses stehen bleibt.«
Nach diesem durchaus gerechten Verweise, der im Grunde genommen mehr gegen mich als gegen meinen Zögling gerichtet war, geht die Mutter aus dem Zimmer und läßt mich in Bewunderung der seltenen Klugheit einer Frau, welche in einem Kusse auf den Mund ihrer Tochter, sobald sie zugegen ist, nichts findet, während sie darüber erschrickt, daß man sich im Geheimen das Kleid derselben zu küssen erlaubt. Bei dem Gedanken an die Thorheit unserer Grundsätze, welche stets die wahre Sittsamkeit dem äußern Anstande aufopfern, sehe ich erst den Grund ein, weshalb die Sprache um so keuscher ist, je verderbter die Herzen sind, und weshalb die Menschen den Anstand desto strenger beobachten, je unreineren Herzens sie sind.
Indem ich Emil bei dieser Gelegenheit die Pflichten einpräge, mit denen ich ihn schon früher hätte bekannt machen sollen, drängt sich mir eine neue Bemerkung auf, die Sophie vielleicht zur höchsten Ehre gereicht, die ich mich aber trotzdem hüten werde, ihrem Liebhaber mitzutheilen: die Bemerkung nämlich, daß ihr dieser vermeintliche Stolz, den man ihr zum Vorwurfe macht, augenscheinlich nur als eine sehr weise Vorsichtsmaßregel dient, um sich vor sich selbst zu bewahren. Da sie fühlt, daß ihr Temperament leider sehr leicht entzündlich ist, so fürchtet sie den ersten Funken und sucht ihn mit aller Macht fern zu halten. Also nicht Stolz, sondern gerade Demuth treibt sie zu dieser Strenge. Die Demuth übt über Emil die Herrschaft aus, die sie über Sophie nicht zu haben fürchtet; sie bedient sich seiner, um Letztere zu bekämpfen. Besäße Sophie mehr Zutrauen zu sich selbst, so würde sie weniger stolz sein. Welches Mädchen in der Welt ist wol, von diesem einzigen Punkte abgesehen, gefälliger und sanfter als sie? Wer erträgt geduldiger eine Beleidigung? Werist mehr auf seiner Hut, irgend Jemand zu kränken? Wer macht geringere Ansprüche auf irgend etwas, außer auf die Tugend? Und gleichwol ist sie auf ihre Tugend nicht stolz; sie verschanzt sich nur hinter einem angenommenen Stolze, um ihre Tugend zu bewahren. Kann sie sich ohne Gefahr der Neigung ihres Herzens überlassen, so überhäuft sie sogar ihren Geliebten mit Liebkosungen. Aber ihre verständige Mutter theilt alle diese Einzelheiten nicht einmal dem Vater mit: die Männer brauchen doch nicht Alles zu wissen.
Weit davon entfernt, auf ihre Eroberung stolz zu scheinen, ist Sophie vielmehr noch freundlicher und weit anspruchsloser gegen Jedermann geworden, den Einzigen vielleicht ausgenommen, der gerade die Ursache dieses Wechsels ist. Das Gefühl der Unabhängigkeit schwellt nicht mehr ihr edles Herz. In bescheidenster Weise rühmt sie sich eines Sieges, welcher ihr die eigene Freiheit kostet. Sie hat ein weniger ungezwungenes Benehmen, und ihre Sprache ist schüchterner geworden, seitdem sie das Wort »Geliebter« nicht mehr ohne zu erröthen anzuhören vermag. Aber durch diese Verlegenheit blickt doch eine gewisse Befriedigung hindurch und selbst in ihrer Scham liegt kein unangenehmes Gefühl. Namentlich tritt ein auffallender Unterschied in ihrem Benehmen hervor, wenn unvermuthet jugendliche Gäste erscheinen. Seitdem sie dieselben nicht mehr fürchtet, hat die übertriebene Zurückhaltung, die sie ihnen gegenüber beobachtete, bedeutend nachgelassen. Jetzt, wo ihre Wahl entschieden ist, zeigt sie sich im Umgange mit ihr gleichgültigen Herren artig und höflich. Da sie weniger hohe Anforderungen an sie stellt, seitdem sie kein Interesse mehr für sie fühlt, findet sie dieselben als Leute, die ihr nie etwas sein werden, liebenswürdig genug.
Wenn mit wahrer Liebe Coquetterie vereinbar wäre, so würde ich sogar einige schwache Spuren derselben in der Art und Weise zu bemerken glauben, wie sich Sophie in Gegenwart ihres Geliebten ihnen gegenüber benimmt. Man sollte fast
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