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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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einer gewissen Manie. Die Vorurtheile des Engländers stammen aus seinem Stolze, die des Franzosen aus seiner Eitelkeit.
    Wie die Völker, welche auf einer weniger hohen Culturstufe stehen, im Allgemeinen die vernünftigsten sind, so pflegen auch diejenigen, unter welchen am seltensten Reisen vorkommen, dafür am besten zu reisen. Da sie in unsern nichtigen Forschungen geringere Fortschritte gemacht und sich von den Gegenständen unserer eitlen Wißbegierde weniger haben einnehmen lassen, so wenden sie dem, was in Wahrheit nützlich ist, ihre ganze Aufmerksamkeit zu. Ich kenne nur die Spanier, welche auf diese Weise reisen. Während ein Franzose von einem Künstler des Landes zum andern läuft, ein Engländer Antiken abzeichnen läßt und ein Deutscher allen Gelehrten sein Album vorlegt, studirt der Spanier im Stillen die Regierungsart, die Sitten, die Staatsverwaltung und ist unter den Vieren der Einzige, welcher bei seiner Heimkunft von dem, was er gesehen hat, irgend eine Beobachtung, die seinem Vaterlande nützlich werden kann, mitbringt.
    Die Alten reisten wenig, lasen wenig, schrieben wenig Bücher, und trotzdem ist man an dem, was uns von ihnen übrig ist, noch zu erkennen im Stande, daß sie einander besser beobachteten, als wir unsere Zeitgenossen beobachten. Ohne bis auf Homer, den einzigen Dichter, der uns völlig in das Land versetzt, von dem er uns eine Beschreibung liefert, zurückzugehen, so muß man doch dem Herodot die Ehre zuerkennen, daß er uns in seiner Geschichte, obgleich sie mehr Erzählungen als Reflexionen enthält, die Sitten besser als alle unsere Geschichtsschreiber geschildert hat, die ihre Werke mit Beschreibungen, Charakteristiken förmlich überladen. Tacitus hat die Deutschen seiner Zeit besser gezeichnet, als irgend ein Schriftsteller die heutigen Deutschen gezeichnet hat. Unstreitig kennen diejenigen, welche in der alten Geschichte bewandert sind, die Griechen, Karthager, Römer, Gallier und Perser besser, als irgend ein Volk in der Gegenwart seine Nachbarn kennt.
    Hierbei muß man nun freilich einräumen, daß sich der ursprüngliche Charakter der Völker von Tage zu Tage mehr verwischt und sich aus diesem Grunde auch schwerer verstehen läßt. In dem Maße, in welchem die Volksstämme sich vermischen und die Völker mit einander verschmelzen,sieht man die Volksunterschiede, welche sonst beim ersten Blicke auffielen, nach und nach verschwinden. Ehemals blieb jede Nation mehr in sich selbst abgeschlossen. Der Verkehr war weniger ausgebildet, es fanden nicht so viele Reisen statt, man hatte weniger gemeinsame oder entgegengesetzte Interessen, die politischen und gesellschaftlichen Verbindungen zwischen Volk und Volk waren nicht so zahlreich und man wußte nichts von jenen königlichen Aufhetzereien, Unterhandlungen genannt, so wie von ordentlichen Gesandten oder Ministerresidenten. Weite Seefahrten kamen selten vor; es gab wenig Handel nach fernen Gegenden, und der unbedeutende Handel, den es überhaupt gab, wurde entweder von dem Fürsten selber getrieben, der sich dazu Fremder bediente, oder von verachteten Persönlichkeiten, die völlig einflußlos waren und zu der gegenseitigen Annäherung der Völker nichts beizutragen vermochten. Heut zu Tage ist der Verkehr zwischen Europa und Asien hundertmal stärker als er ehedem zwischen Gallien und Spanien war. Europa allein war unter sich unzusammenhängender als in unseren Tagen die ganze Erde.
    Dazu wolle man noch ferner berücksichtigen, daß sich die alten Völker meistens als Ureinwohner oder aus ihrem eigenen Lande herstammend betrachteten, da sie es lange genug in Besitz hatten, um das Andenken an die längst verflossenen Jahrhunderte, in welchen sich ihre Vorfahren in demselben niederließen, vergessen zu können und dem Klima die nöthige Zeit zu gewähren, bleibende Spuren an ihnen zurückzulassen; während unter uns erst die Einfälle der Römer und darauf die noch im frischen Andenken stehenden Einwanderungen der Barbaren Alles untermischt, alles Ursprüngliche vernichtet haben. Die heutigen Franzosen sind nicht mehr von so großem Körperbau und so blond und flachshaarig wie ihre Väter. Die Griechen sind nicht mehr jene schönen Menschen, geschaffen, der Kunst als Vorbilder zu dienen. Sogar die Gestalt der Römer hat eben so wie ihre Natur ihren Charakter geändert. Die Perser, die eigentlichen Ureinwohner der Tartarei, verlieren in Folge ihrer Vermischung mit tscherkessischem Blute mit jedem Tage von ihrer ursprünglichen

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