Emil oder Ueber die Erziehung
von ihr wie von dir diese Trennung erfordert, so darf sie dieselbe weniger muthig ertragen.«
Ich kann kaum der Versuchung widerstehen, das Tagebuch der Liebe dieser beiden jungen Leute bis zu ihrer Trennung fortzusetzen. Da ich indeß die Nachsicht der Leser schon lange genug mißbrauche, so will ich, um dieser Episode einmal ein Ende zu machen, mich kurz fassen. Wird Emil es wagen, zu den Füßen seiner Geliebten dieselbe Sicherheit zur Schau zu tragen, die er so eben seinem Freunde gegenüber bewiesen hat? Ich für meinen Theil halte mich davon überzeugt. Die Aufrichtigkeit seiner Liebe selbst muß ihm diese Sicherheit verleihen. Wäre diese Trennung von ihr ein weniger schweres Opfer für ihn, so würde er verlegener sein. Er würde sich beim Abschiede schuldbewußt fühlen, und dies Gefühl versetzt ein redliches Herz stets in Verlegenheit. Je größer aber das Opfer ist, welches er bringt, desto mehr gereicht es ihm in den Augen derjenigen zur Ehre, die es ihm so schwer macht. Er hegt keine Besorgniß, daß sie sich über den Beweggrund, von dem er sich leiten läßt, einer Täuschung hingibt. Er scheint ihr mit jedem Blicke zu sagen: »O Sophie, lies in meinem Herzen und bleibe mir treu; dein Geliebter ist nicht gewissenlos.«
Die muthige Sophie ihrerseits sucht den Schlag, der sie so unversehens trifft, mit Würde zu tragen. Sie strengt sich an, gegen denselben unempfindlich zu erscheinen. Da ihr aber nicht, wie Emil, neben der Ehre des Kampfes auch noch die des Sieges zu Theil wird, so vermag sie ihre Festigkeit nicht lange zu bewahren. Wie sehr sie sich auch zusammen nimmt, bricht sie doch in Thränen und Seufzen aus, und die Angst, daß Emil sie vergessen könnte, verschärft den Schmerz der Trennung. Zwar weint sienicht in Gegenwart ihres Geliebten, zeigt sie an seiner Seite nicht ihre Angst; nein, eher würde sie ersticken, als daß sie sich in seiner Gesellschaft auch nur einen einzigen Seufzer entschlüpfen ließe. Aber mir schüttet sie ihre Klagen aus, ich darf ihre Thränen fließen sehen, ich bin es, den sie sich dem Anscheine nach zum Vertrauten wählt. Die Frauen sind gewandt und wissen sich zu verstellen. Je heftiger sie im Geheimen über meine Tyrannei murrt, mit desto größerer Aufmerksamkeit kommt sie mir entgegen. Sie ist sich dessen bewußt, daß ihr Schicksal in meinen Händen liegt.
Ich tröste sie, spreche ihr Muth ein und bürge ihr für ihren Geliebten oder vielmehr für ihren Gemahl, denn ich schwöre es ihr zu, daß er dies in zwei Jahren sein wird, wenn sie nur mit eben solcher Treue an ihm hange, wie er an ihr. Sie hegt eine viel zu hohe Achtung vor mir, um glauben zu können, daß ich darauf ausgehe, sie zu täuschen. Ich verbürge mich bei Jedem von Beiden für den Andern. Ihre Herzen, ihre Tugend, meine Rechtschaffenheit, das Vertrauen ihrer Eltern, Alles beruhigt sie wieder allmählich. Aber wie wenig vermag die Vernunft wider die Schwäche! Sie scheiden von einander, als wäre es eine Trennung auf Nimmerwiedersehen.
Nun fällt Sophie der Kummer der Eucharis ein und sie träumt sich lebhaft an ihre Stelle. Verhüten wir jedoch, daß während unserer Abwesenheit jene phantastische Liebe wieder erwache. »Sophie,« sage ich deshalb eines Tages zu ihr, »tauschen Sie und Emil ihre Lieblingsbücher aus. Geben Sie ihm Ihren Telemach, damit er ihm ähnlich zu werden lerne, Sie aber mögen sich von ihm seinen Beobachter [28] geben lassen, in welchem Sie so gern lesen. Machen Sie sich aus demselben mit den Pflichten eines ehrbaren Weibes vertraut und seien Sie dessen eingedenk, daß diese Pflichten in zwei Jahren die Ihrigen sein werden.« Dieser Tausch findet Beider Beifall underfüllt sie mit Vertrauen. Endlich erscheint der traurige Tag des Scheidens.
Sophiens würdiger Vater, mit dem ich Alles ausführlich besprochen habe, umarmt mich, als ich von ihm Abschied nehme. Darauf nimmt er mich bei Seite und sagt in ernstem und nachdrucksvollem Tone: »Ich bin in allen Stücken Ihrem Wunsche nachgekommen, denn ich wußte, daß ich es mit einem Ehrenmanne zu thun hatte. Jetzt brauche ich Ihnen nur noch ein Wort zu sagen: Vergessen Sie nicht, daß Ihr Zögling seinen Ehecontract auf dem Munde meiner Tochter besiegelt hat.«
Wie abweichend ist das Benehmen der beiden Liebenden! Emil, der heftig, feurig, aufgeregt und außer sich ist, schreit laut auf, benetzt die Hände des Vaters, der Mutter, der Tochter mit Strömen von Thränen, umarmt schluchzend alle Hausgenossen und wiederholt
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