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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Wahrheit noch aus ihren Lügen und absichtlichen Verdrehungen herausfinden muß.
    Wir wollen deshalb die Bücher, welche man uns als ein so vortreffliches Hilfsmittel anpreist, denen überlassen, deren geistige Fähigkeit in ihnen Befriedigung findet. Dieses Hilfsmittel dient, wie die Kunst des Raymond Lullus, [31] nur dazu, über Dinge, von denen man nichts versteht, schwatzen zu lernen, dient zur Abrichtung fünfzehnjährigerPlatos, dient sie in den Stand zu setzen, in Vereinen philosophische Vorträge zu halten und eine Gesellschaft auf Grund der Berichte eines Paul Lucas oder eines Tavernier [32] über die Sitten der Aegypter und Inder zu unterrichten.
    Für mich gilt es als eine ausgemachte Wahrheit, daß derjenige, welcher nur mit einem einzigen Volke bekannt ist, nicht die Menschen im Allgemeinen, sondern nur die Leute kennt, unter denen er gelebt hat. Danach könnte die Frage in Bezug auf den Nutzen des Reisens auch noch eine andere Fassung erhalten, nämlich: Ist es für einen Mann von guter Erziehung ausreichend, nur seine Landsleute zu kennen, oder ist es für ihn von Wichtigkeit, sich allgemeine Menschenkenntniß zu erwerben? Darüber kann kein Streit noch Zweifel herrschen. Hieraus läßt sich erkennen, wie viel bei der Lösung einer schwierigen Frage von der Fassung derselben abhängt.
    Muß man nun aber, um die Menschen zu studiren, die ganze Erde durchstreifen? Muß man, um die Europäer zu beobachten, nach Japan gehen? Muß man sämmtliche Individuen kennen, um das Geschlecht kennen zu lernen? Sicherlich nicht. Es gibt Menschen, die sich so ähnlich sehen, daß es nicht der Mühe werth ist, sie einzeln zu studiren. Wer zehn Franzosen gesehen hat, der hat Alle gesehen. Kann man nun auch dies von den Engländern und einigen andern Völkern nicht mit eben solcher Bestimmtheit behaupten, so steht doch so viel fest, daß jede Nation ihren besonderen und eigentümlichen Charakter hat, der nicht durch die Beobachtung eines einzelnen, wol aber durch die mehrerer ihrer Glieder durch einfache Schlußfolgerung gefunden werden kann. Wer zehn Völker mit einander verglichen hat, kennt die Völker, wie der, welcher mit zehn Franzosen Umgang gehabt hat, die Franzosen kennt.
    Ein oberflächliches Durchstreifen der Länder reicht nun aber zur Belehrung noch nicht hin; man muß zu reisen verstehen. Zum Beobachten muß man Augen haben und sie auf den Gegenstand richten, welchen man kennen zulernen wünscht. Viele Leute lernen auf ihren Reisen noch weniger als aus ihren Büchern, weil ihnen die Kunst zu denken fremd ist, und weil bei der Lectüre ihr Geist wenigstens der Leitung des Schriftstellers folgt, während es ihnen auf ihren Reisen an der Fähigkeit fehlt, selbst Beobachtungen anzustellen. Andere unterrichten sich einfach deshalb nicht, weil sie nicht Lust haben, sich zu unterrichten. Ihr Zweck ist ein so verschiedener, daß sich jener ihrem Gesichtskreise völlig entzieht. Es ist ein großer Zufall, wenn man das, dessen Anblick Einem gleichgültig ist, genau sieht. Von allen Völkern der Erde reisen die Franzosen am meisten, aber durchdrungen von der Vortrefflichkeit ihrer eigenen Sitten, verwechseln sie Alles, was diesen nicht gleicht. In allen Winkeln der Erde finden sich Franzosen. Kein Land kann mehr Leute aufweisen, die Reisen unternommen haben, als Frankreich. Und trotzdem kennt unter allen Völkern Europas gerade dasjenige, welches die übrigen am häufigsten besucht hat, sie am allerwenigsten. Auch die Engländer reisen, aber auf andere Weise. Diese beiden Völker müssen in jeder Beziehung einen Gegensatz bilden. Bei den Engländern reist der Adel, bei den Franzosen reist er nicht. In Bezug auf das Volk findet das umgekehrte Verhältniß statt. Dieser Unterschied scheint mir für die Engländer ehrenvoll. Die Franzosen lassen sich bei ihren Reisen fast immer von einem bestimmten Interesse leiten, während die Engländer ihr Glück nie bei andern Nationen suchen, es geschehe denn auf dem Wege des Handels oder vermittelst voller Hände. Der Zweck ihres Reisens ist ihr Geld auszugeben, nicht ihren Unterhalt zu suchen. Sie sind zu stolz, um in der Fremde in Niedrigkeit zu leben. Hierin liegt auch der Grund, daß sie in fremden Ländern mehr lernen als die Franzosen, welche sich mit ganz andern Plänen tragen. Gleichwol haben die Engländer ebenfalls ihre nationalen Vorurtheile, ja sie haben deren sogar mehr als irgend ein anderes Volk, allein diese Vorurtheile beruhen weniger auf Unwissenheit, als auf

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