Emil oder Ueber die Erziehung
Erbe seines Vaters zu entsagen; ja, da der Geburtsort eine Gabe der Natur ist, so verzichtet er dadurch auch gleichzeitig auf das Erbe dieser. Nach dem strengen Rechte bleibt jeder Mensch, wo er auch immer geboren sein möge, auf seine eigene Gefahr frei, falls er sich nicht freiwillig den Gesetzen unterwirft, um sich dadurch das Anrecht auf ihren Schutz zu sichern.
Ich würde also zum Beispiel zu ihm sagen: »Bis jetzt hast du unter meiner Leitung gelebt, da du außer Stande warst, dich selbst zu regieren. Allein du näherst dich nun dem Alter, in welchem dich die Gesetze dadurch, daß sie dir die Verfügung über dein Vermögen gestatten, zum Herrn deiner Person machen. Bald wirst du dich in der Gesellschaft allein fühlen, abhängig von Allem, sogar von deinem Erbe. Du trägst dich mit der Absicht, dir eine Lebensgefährtin zu nehmen, und diese Absicht ist lobenswerth; ihre Durchführung gehört zu den Pflichten des Mannes. Ehe du dich aber verheirathest, mußt du darüber ins Klare gekommen sein, was für ein Mann du sein willst, womit du dein Leben zuzubringen gedenkst, was für Maßregeln du ergreifen willst, um dir und deiner Familie Brod zu sichern; denn darf diese Sorge auch nicht zur Hauptsache gemacht werden, so muß man gleichwol einmal daran denken. Willst du dich in die Abhängigkeit von Menschen begeben, die du verachtest? Willst du die Befestigung deines Glückes und die Sicherung deiner ganzen Lage in gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, die dich unaufhörlich dem Belieben Anderer Preis geben und dichnöthigen, um nur den Schelmen zu entgehen, selbst ein Schelm zu werden?«
Darauf werde ich ihm alle mögliche Mittel angeben, sein Vermögen vorteilhaft anzulegen, sei es, daß er sich dem Handel oder dem Staatsdienste widmet, sei es, daß er sich an financiellen Unternehmungen betheiligt. Ich werde ihm den Nachweis führen, daß es nicht ein einziges gibt, welches nicht mit Gefahren für ihn verknüpft ist, nicht ein einziges, welches ihn nicht in eine unsichere und abhängige Lage versetzt und ihn nicht zwingt, seine Sitten, seine Gefühle, sein Benehmen dem Beispiele und den Vorurtheilen Anderer anzubequemen.
»Es gibt,« werde ich zu ihm sagen, »freilich noch ein anderes Mittel, seine Zeit und seine Person zu verwenden, nämlich in Kriegsdienste zu treten, d. h. sich für einen geringen Lohn anwerben zu lassen, um Leute zu tödten, die Einem nie etwas zu Leide gethan haben. Dieses Handwerk steht unter den Menschen in großem Ansehen und man schätzt diejenigen außerordentlich hoch, welche nur dazu gut sind. Außerdem bist du dadurch nicht etwa anderer Hilfsmittel überhoben, sondern erst recht auf dieselben angewiesen, denn die Ehre dieses Standes erfordert es, diejenigen zu Grunde zu richten, welche sich ihm widmen. Allerdings gehen nicht Alle unter. Es scheint sogar unmerklich Mode zu werden, daß man sich in diesem Stande eben so wie in den übrigen bereichert. Wenn ich dir jedoch erklären wollte, wie sie es anstellen, um dieses Ziel zu erreichen, so bezweifle ich, daß du dadurch Lust erhieltest, ihrem Beispiele zu folgen.«
»Du wirst dich außerdem überzeugen, daß es bei diesem Handwerke nicht einmal auf Muth oder persönlichen Werth ankömmt, wenn nicht etwa den Frauen gegenüber, sondern daß im Gegentheile der Kriechendste, Gemeinste und Knechtischste stets der Geehrteste ist. Ließest du dir in den Sinn kommen, deinem Dienste in allem Ernste obzuliegen, so würdest du verachtet, gehaßt, vielleicht fortgejagt oder wenigstens zurückgesetzt und von deinen Kameraden überflügelt werden, und nur deshalb, weil dudeinen Dienst in den Laufgräben versehen hast, während sie den ihrigen vor dem Putztische verrichteten.«
Man kann sich wol vorstellen, daß alle diese verschiedenen Beschäftigungen dem Geschmacke Emils nicht sehr zusagen. »Wie,« wird er mir erwidern, »habe ich denn die Spiele meiner Kindheit verlernt? Bin ich meiner Arme verlustig gegangen? Ist meine Kraft erschöpft? Vermag ich nicht mehr zu arbeiten? Was gehen mich alle eure schönen Beschäftigungen und alle thörichten Meinungen der Menschen an? Ich geize nach keinem andern Ruhme als wohlthätig und gerecht zu sein. Ich kenne kein anderes Glück, als mit dem, was man liebt, in Unabhängigkeit zu leben, während man sich täglich durch seine Arbeit Appetit und Gesundheit verschafft. Alle jene Schwierigkeiten, auf welche Sie mich aufmerksam gemacht haben, können mich kaum berühren. Ich begehre als ganzes
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