Emil oder Ueber die Erziehung
wäre, was zur Kenntniß der Regierung, der öffentlichen Sitten und der Staatsgrundsätze jeglicher Art gehört, es uns Beiden, ihm sowol wie mir, an Verstand und Urtheil fehlen müßte.
Ein festes Staatsrecht muß erst gebildet werden, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich nie bilden. Grotius, der Lehrer aller unserer Gelehrten auf diesem Gebiete ist nur ein Kind, und was noch schlimmer ist, ein völlig unglaubwürdiges Kind. Wenn ich mit anhöre, wie man Grotius bis in die Wolken erhebt und Hobbes mit Verwünschungen überschüttet, so kann ich daraus den Schluß ziehen, wie viel verständige Menschen eigentlich diese beiden Schriftsteller lesen oder verstehen. In Wahrheit stimmen sie in ihren Grundsätzen genau überein; nur in Bezug auf die Terminologie findet ein Unterschied statt. Auch weichen sie in der Methode von einander ab. Hobbes stützt sich auf Sophismen, Grotius auf Dichter. Alles Uebrige haben sie mit einander gemein.
Der Einzige in neuerer Zeit, der im Stande gewesen wäre, diese große und unnütze Wissenschaft ins Leben zurufen, wäre der berühmte Montesquieu gewesen. Aber er hat sich in Acht genommen, die Grundsätze des Staatsrechtes zu behandeln. Er begnügte sich damit, das positive Recht der bestehenden Staaten in den Kreis seiner Besprechung zu ziehen, und zwischen diesen beiden Studien ist ein gewaltiger Unterschied.
Wer also die Regierungsformen, so wie sie bestehen, richtig beurtheilen will, ist genöthigt, diese beiden Studien mit einander zu vereinigen. Um das, was ist, richtig beurtheilen zu können, muß er wissen, was sein soll. Die Hauptschwierigkeit, die sich der Aufklärung dieses wichtigen Gegenstandes entgegenstellt, besteht darin, einen Privatmann für die Erörterung desselben und für die Beantwortung der beiden Fragen: Was geht es mich an? und: Was kann ich dazu thun? zu interessiren. Ich habe unsern Emil in den Stand gesetzt, sich alle beide beantworten zu können.
Die zweite Schwierigkeit liegt in den Vorurtheilen der Kindheit, in den Grundsätzen, in welchen man auferzogen ist, hauptsächlich aber in der Parteilichkeit der Schriftsteller, welche, trotzdem sie immer von der Wahrheit reden, sich doch nicht im Geringsten um dieselbe kümmern, dafür aber um so mehr an ihren eigenen Vortheil denken, von dem sie niemals reden. Da die Verleihung von Lehrstühlen, Pensionen und akademischen Stellen nicht vom Volke ausgeht, so kann man sich ein Urtheil darüber bilden, wie seine Rechte von jenen Leuten begründet und erläutert werden. Ich habe dafür Sorge getragen, daß Emil auch unter dieser Schwierigkeit nicht zu leiden hat. Kaum weiß er bis jetzt, was Regierung ist. Für ihn handelt es sich einzig und allein darum, die beste ausfindig zu machen. Er trägt sich durchaus nicht mit schriftstellerischen Plänen, und sollte er je ein Buch schreiben, so geschieht es sicherlich nicht in der Absicht, den Mächtigen den Hof zu machen, sondern um die Rechte der Menschheit zur Anerkennung zu bringen.
Es bleibt noch eine dritte, mehr scheinbare als wirkliche Schwierigkeit übrig, deren Erwähnung und Lösung ich aus diesem Grunde für unnöthig halte. Es genügtmir, daß sie meinen Eifer nicht zurückzuschrecken vermag, da ich dessen sicher bin, daß zu dergleichen Untersuchungen nicht sowol große Talente nothwendig sind, als vielmehr eine aufrichtige Liebe zur Gerechtigkeit und eine wahre Achtung vor der Wahrheit. Wenn sich also überhaupt alle die Regierung berührenden Fragen einigermaßen mit Gerechtigkeitssinn behandeln lassen, so ist meiner Ansicht nach hier oder nirgends die Gelegenheit dazu da.
Bevor man Beobachtungen anstellt, muß man sich bestimmte Regeln für dieselben bilden. Man muß sich einen Maßstab verschaffen, auf welchen man alle Messungen, die man vornimmt, zurückführen kann. Unsere Grundsätze des politischen Rechts bieten uns einen solchen Maßstab dar. Die Objecte unserer Messungen sind die politischen Gesetze eines jeden Landes.
Unsere Elemente werden klar, einfach und unmittelbar aus der Natur der Dinge geschöpft sein. Es werden Fragen zu gegenseitigen Erörterungen aufgeworfen werden, die wir nicht eher werden als Grundsätze gelten lassen, als bis sie eine genügende Lösung gefunden haben.
So werden wir z. B., indem wir zunächst bis zum Naturzustande zurückgehen, untersuchen, ob die Menschen in Knechtschaft oder Freiheit, ob sie durch die Vereinigung mit Andern in Abhängigkeit oder Unabhängigkeit geboren werden; ob sie sich
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