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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ein! Du wirst dadurch zwar dem Tode nicht entfliehen, wirst aber auch nur einmal seine Schrecken empfinden, während jene deine Einbildungskraft täglich beunruhigen und ihre lügnerischen Künste dir allen Lebensgenuß rauben, anstatt deine Tage zu verlängern. Ich muß mir immer wieder die Frage vorlegen, welch wahres Gut die ärztliche Kunst dem Menschen eigentlich bereitet hat. Einige von denen, die sie heilt, würden sterben, das ist eine ausgemachte Wahrheit; dafür würden aber auch Millionen, die sie tödtet, am Leben bleiben. Mensch, spiele, wenn du gescheidt bist, nicht in dieser Lotterie, wo dir alle Aussichten fehlen! Leide, stirb oder genese, vor Allem aber lebe bis zu deiner letzten Stunde.
    Alle menschliche Einrichtungen sind voller Narrheit und Widersprüchen. Je mehr unser Leben an Werth verliert, desto mehr beunruhigen wir uns über dasselbe. Die Greise beklagen die Flüchtigkeit desselben mehr als die jungen Leute; sie wollen die Früchte der Vorbereitungen nicht verlieren, welche sie getroffen haben, um es recht zu genießen. Es ist freilich ein grausames Schicksal mit sechzig Jahren zu sterben, wenn man eigentlich noch gar nicht zu leben angefangen hat. Man ist der Ansicht, daß der Mensch einen lebhaften Erhaltungstrieb besitze, und das ist unleugbar;aber man will nicht begreifen, daß dieser Trieb, in der Weise wie wir ihn fühlen, großenteils das Werk der Menschen ist. Von Natur bemüht sich der Mensch um seine Erhaltung nur in so weit, als die Mittel dazu in seiner Macht stehen; sobald ihm dieselben ausgehen, wird er dagegen gleichgültig und gefühllos und stirbt, ohne sich vergeblich zu quälen. Die Natur selber predigt uns als erstes Gesetz die Ergebung in unser Schicksal. Die Wilden sträuben sich eben so wie die Thiere nur im geringen Grade gegen den Tod und erdulden ihn fast ohne Klage. Ist dieses Gesetz aufgehoben, so entwickelt sich daraus ein anderes, welches wir mit unserer eigenen Vernunft daraus herleiten können; aber nur Wenige verstehen die richtigen Schlüsse zu ziehen, und diese erkünstelte und unnatürliche Resignation ist niemals so völlig und entschieden als die erste.
    Vorsorge! O diese Vorsorge, die uns unaufhörlich in uns fremde Bahnen leitet und uns oft für Lebensstellungen vorzubereiten sucht, die wir nimmermehr erreichen werden, sie ist gerade die wahre Quelle aller unserer Leiden. Welch’ eine Sucht für ein so vergängliches Wesen, wie der Mensch, beständig in die Ferne zu schauen, in eine Zukunft, die sich nur selten wirklich so gestaltet, und darüber die Gegenwart zu vergessen, deren er doch sicher ist! Diese Sucht ist aber um so trauriger, als sie mit dem Alter stetig wächst, und die beständig mißtrauischen, vorsorglichen und geizigen Greise lieber für den Augenblick auf das Notwendige verzichten, als in einem Alter von hundert Jahren das Überflüssige entbehren. Deshalb hat Alles in unseren Augen Werth, deshalb klammern wir uns an Alles an. Zeiten und Orte, Menschen und Dinge, kurz, Alles, was ist, und Alles, was sein wird, hat für Jeden von uns eine gewisse Wichtigkeit. Die Folge davon ist denn, daß unser eigenes Ich nur den kleinsten Theil unseres Selbst bildet. Jeder dehnt sich gleichsam über die ganze Erde ans und wird im Verhältnisse zu dem Umfange dieser ganzen großen Oberfläche entsprechend reizbar und empfindlich. Ist es deshalb zu verwundern, wenn sich unsere Leiden auf allen verletzbaren Punkten vervielfältigen? Wie viele Fürsten gerathen doch über den Verlust einesLandes, welches sie niemals gesehen haben, fast in Verzweiflung! Wie viele Kaufleute braucht man nur in Indien anzurühren, um in Paris ein allgemeines Klagegeschrei hervorzurufen!
    Ist es etwa die Natur, welche den Menschen ihrem Wesen so fremde Bahnen vorzeichnet? Ist sie es, welche will, daß Jeder sein Schicksal von Anderen erfahre und es bisweilen erst zuletzt erfahre, so daß schon Mancher glücklich oder elend gestorben ist, ohne je gewußt zu haben, daß er es war? Ich sehe einen frischen, heitern, kräftigen, gesunden Mann vor mir; man fühlt sich in seiner Gegenwart froh und glücklich; Zufriedenheit und Wohlsein lacht uns aus seinen Augen entgegen, als ein verkörpertes Bild des Glückes steht er da. Plötzlich langt ein Brief mit der Post an; der glückliche Mann betrachtet ihn; der Brief trägt seine Adresse, er öffnet, er liest ihn. Mit einem Male verändern sich seine Mienen; er erblaßt, er fällt in Ohnmacht. Wieder zu sich gekommen, weint, tobt,

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