Emil oder Ueber die Erziehung
Abhängigkeit von den Menschen, weil dieselbe an keine bestimmte Regel geknüpft ist, [5] und durch sie allein verderben sich Herren und Knechte gegenseitig. Wenn es überhaupt ein Mittel gibt, diesem Uebel in der Gesellschaft abzuhelfen, so kann es nur darin gefunden werden, daß man ohne Rücksicht auf den einzelnen Menschen allein das Gesetz walten läßt und denallgemeinen Willen mit einer wirklichen Gewalt ausrüstet, die der Aeußerung jedes Einzelwillens überlegen ist. Besäßen die Gesetze der Völker gleich den Naturgesetzen eine Unbeugsamkeit, welche keine menschliche Kraft je zu überwinden vermöchte, so würde die gesellschaftliche Abhängigkeit wieder der natürlichen ähnlich werden; man würde dann im Staate alle Vortheile des Naturzustandes mit denen des bürgerlichen Lebens vereinigen; man würde mit der Freiheit, die den Menschen von Lastern frei erhält, die Sittlichkeit verbinden, welche ihn zur Tugend erhebt.
Erhaltet das Kind lediglich in der Abhängigkeit von den Dingen, dann werdet ihr bei seiner Erziehung die Gesetze der Natur befolgen. Setzet den launenhaften Kundgebungen seines Willens nur physische Hindernisse oder solche Strafen entgegen, die als Folgen seiner Handlungen zu betrachten sind, und deren es sich bei gegebener Gelegenheit wieder erinnert. Haltet euch nicht lange mit dem Verbote etwas Böses zu thun auf; es genügt, es daran zu verhindern. Seine Erfahrung oder seine Ohnmacht muß ihm als alleiniges Gesetz dienen. Erfüllet seine Wünsche nicht deshalb, weil es nach den verbotenen Gegenständen Begehren trägt, sondern nur weil es ihrer bedarf. Weder sei es sich bei seinem eigenen Thun des Gehorsams, noch bei den Bemühungen Anderer um seinetwillen des Rechtes zu befehlen bewußt. Es empfinde seine Freiheit bei seinen wie bei euren Handlungen. Fehlt es ihm an Kraft, so ergänzet sie ihm nur so weit, als es derselben bedarf, um frei zu sein, nicht aber, um sich zu eurem Herrn zu machen. Möge es dadurch, daß es eure Dienstleistungen mit einer gewissen Demuth annimmt, zu erkennen geben, wie sehr es den Augenblick herbeisehnt, wo es derselben wird entbehren können, und wo es die Ehre haben wird, sich selbst zu bedienen.
Zur Kräftigung des Körpers und zur Beförderung seines Wachsthums besitzt die Natur Mittel, welchen man nicht hinderlich in den Weg treten darf. Man darf ein Kind, wenn es gehen will, nicht zum Stillsitzen, noch, wenn es ruhig auf seinem Platze bleiben will, zum Gehen zwingen. Ist der Wille der Kinder nicht durch unsere eigeneSchuld verdorben, so äußern sie denselben nie unnützerweise. Sie müssen springen, laufen, schreien dürfen, so oft sie Lust dazu verspüren. Bei allen ihren Bewegungen folgen sie den Bedürfnissen ihrer Natur, die sich zu stärken sucht; sehr achtsam muß man aber sein, sobald sich bei ihnen Wünsche regen, die sie nicht selbst zu befriedigen vermögen, sondern bei deren Erfüllung sie auf fremde Hilfe angewiesen sind. Alsdann muß man zwischen dem wahren, dem natürlichen Bedürfnisse, und dem eingebildeten Bedürfnisse, welches sich zu regen beginnt, oder jenem, welches in der strotzenden Lebensfülle seine Wurzel hat, wovon bereits die Rede gewesen ist, sorgfältig unterscheiden.
Ich habe mich oben schon darüber geäußert, was man zu thun hat, wenn ein Kind weint, um dadurch dies oder jenes zu erlangen. Ich will hier nur noch hinzufügen, daß man ihm, sobald es sein Begehren auszusprechen vermag und trotzdem zu Thränen seine Zuflucht nimmt, sei es nun, um seinen Zweck schneller zu erreichen, oder sei es um eine Weigerung zu besiegen, unter allen Umständen seine Bitte abschlagen muß. Hat ihm eurer Ueberlegung nach das Bedürfnis seine Bitte entlockt, so müßt ihr sein Begehren sofort erfüllen; aber seinen Thränen gegenüber den Nachgiebigen spielen, heißt ihn nur zu immer erneuten Thränengüssen anspornen, heißt ihm Zweifel an eurem guten Willen und den Glauben einflößen, daß bei euch Ungestüm wirksamer als Freundlichkeit sei. Hält es euch nicht für gütig, wird es bald unartig werden; erscheint ihr ihm schwach, werdet ihr bald unter seinem Eigensinn zu leiden haben. Hierbei ist es von Wichtigkeit, daß man ihm das, was man ihm nicht versagen will, regelmäßig auf das erste Zeichen gewährt. Haltet im Verweigern Maß, lasset euch aber nie dazu bewegen eine einmal ausgesprochene Weigerung wieder zurückzunehmen.
Vor Allem hütet euch, das Kind an leere Höflichkeitsformeln zu gewöhnen, deren es sich
Weitere Kostenlose Bücher