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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ziehen werden? Die Jahre des Frohsinnes vergehen ihnen unter Thränen, Züchtigungen, Drohungen, kurzum in voller Sklaverei. Man peinigt das unglückliche Kind um seines Wohles willen und will nicht einsehen, daß man dadurch den Tod herbeiruft, dessen Beute es mitten unter diesen traurigen Vorkehrungen werden wird. Wer vermag zu berechnen, wie viel Kinder als Schlachtopfer der überspannten Weisheit eines Vaters oder eines Lehrers dahinsterben? Glücklich sind alle zu preisen, welche solcher Grausamkeit entgehen! Der einzige Vortheil, den sie aus den ihnen zugefügten Leiden ziehen, liegt darin, daß sie sterben, ohne den Verlust eines Lebens zu beklagen, von dem sie nur die Qualen kennen gelernt haben.
    Menschen, seid menschlich, das ist eure erste Pflicht; seid es gegen alle Stände, gegen alle Lebensalter, gegen Alles, was der menschlichen Natur eigen ist. Kennt ihr noch eine Weisheit außer der Humanität? Liebet die Kindheit, begünstigt ihre Spiele, ihre Vergnügungen, ihren liebenswürdigen Instinct. Wer von euch hätte sich nicht bisweilen nach diesem glücklichen Alter zurück gesehnt, wo das Lächeln stets auf den Lippen schwebt und Ruhe und Frieden die Seele erfüllt? Weshalb wollt ihr diese kleinen Unschuldigen um den Genuß einer Zeit, die so flüchtig ist und eines so kostbaren Gutes, das sie nicht mißbrauchen können, rücksichtslos bringen? Weshalb wollt ihr ihnen diese ersten, so schnell entfliehenden Jahre, die ihnen nie wiederkehren werden, um deswillen mit Bitterkeit und Schmerzen vergällen, weil sie euch nicht wiederkehren können? Väter, kennt ihr den Augenblick, wo der Tod eurer Kinder wartet? Hütet euch, daß ihr nicht einst bereuen müßt, ihnen die kurzen Augenblicke, welche die Natur ihnen schenkt, geraubt zu haben; traget Sorge, daß sie die Freude des Daseins, sobald sie dieselbe empfinden können, auch unverkürzt genießen; traget Sorge, daß sie, zu welcherStunde Gott sie auch abberufen möge, nicht sterben, ohne das Glück des Lebens gekostet zu haben.
    Wie viele Stimmen werden sich gegen mich erheben! Ich höre schon von Weitem den Schrei der Entrüstung, den jene falsche Weisheit ausstoßen wird, welche uns unaufhörlich nur außer uns liegende Ziele vorsteckt, die Gegenwart beständig für nichts achtet und unablässig einer Zukunft nachjagt, die bei jedem Fortschritte, den wir machen, nur desto weiter vor uns flieht. Sie hat es stets mit Verhältnissen zu schaffen, die den unsrigen ganz fremd sind, und macht uns nur mit solchen vertraut, in denen wir uns nie befinden werden.
    Man wird mir dagegen einwenden, daß gerade diese Lebensperiode die richtige Zeit sei, die bösen Neigungen des Menschen zu verbessern; in dem Alter der Kindheit, wo die Strafen weniger fühlbar seien, müsse man sie gerade vervielfältigen, um ihrer im Alter der Vernunft überhoben zu sein. Allein wer bürgt euch denn dafür, daß die Ausführung dieses Planes auch völlig euren Wünschen entspricht, und daß alle diese schönen Lehren, mit denen ihr den schwachen Geist eines Kindes überladet, ihm dereinst nicht mehr Schaden als Nutzen bereiten werden? Wer bürgt euch dafür, daß ihr ihm durch all das Weh, das ihr ihm so häufig zufügt, irgend etwas erspart? Weshalb bereitet ihr ihm mehr Leiden, als sein Zustand zuläßt, ohne sicher zu sein, daß diese gegenwärtigen Leiden den zukünftigen vorbeugen? Und wie wollt ihr mir beweisen, daß diese bösen Neigungen, von denen ihr es heilen zu wollen vorgebt, sich bei ihm nicht gerade erst durch eure übel angebrachten Sorgen herausgebildet haben, anstatt eine Mitgift der Natur zu sein? Unheilvolle Fürsorge, die ein Wesen in der wohl oder übel gegründeten Hoffnung es einst glücklich zu machen, es für die Gegenwart unglücklich macht! Wenn diese oberflächlichen Schwätzer jedoch Zügellosigkeit mit Freiheit, und ein Kind, das man glücklichen machen strebt, mit einem Kinde, welches man verzieht, verwechseln, so will ich ihnen die Unterschiede nachweisen.
    Um nicht Hirngespinnsten nachzujagen, dürfen wirnicht vergessen, was uns in unserer Eigenschaft als Menschen zusagt und dienlich ist. Die Menschheit hat ihren Platz in der Ordnung der Dinge; die Kindheit hat wieder den ihrigen in der Ordnung des menschlichen Lebens. Man muß den Mann im Manne und im Kinde das Kind betrachten. Jedem seinen Platz anweisen und auf demselben befestigen, die menschlichen Triebe in Bahnen lenken, die der Natur des Menschen nicht zuwider laufen, ist Alles, was wir für

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