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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sind. Aus diesem Grunde vermehren sich seine Wünsche mit seiner Schwäche, und dies ist es auch, was die Schwäche der Kindheit, mit dem Mannesalter verglichen, so grell hervortreten läßt. Wenn der Mann ein starkes und das Kind ein schwaches Wesen ist, so liegt die Ursache nicht etwa darin, daß ersterer mehr absolute Stärke als letzeres besitzt, sondern einfach darin, daß jener sich natürlich selbst genug sein kann, dieses aber nicht. Der Mann muß demnach mehr Willen, das Kind mehr Phantasie haben, unter welchem Worte ich alle Wünsche verstehe, welche nicht auf wahren Bedürfnissen beruhen, sondern sich nur mit fremder Hilfe befriedigen lassen.
    Ich habe die Ursache dieses Schwächezustandes angedeutet. Hier greift nun die Natur durch die Liebe der Eltern ein; allein diese Liebe tritt sehr verschieden auf; bald zeigt sie sich in übertriebener, bald in ungenügender, bald in verkehrter Weise. Eltern, welche in bürgerlichen Verhältnissen leben, versetzen ihr Kind vor dem dazu geeigneten Alter in dieselben. Dadurch daß sie es an Bedürfnisse gewöhnen, die ihm noch fremd sind, unterstützen sie nicht seine Schwäche, sondern vermehren sie. Sie vermehren sie ferner dadurch, daß sie Leistungen von dem Kinde fordern, welche die Natur noch keineswegs verlangte, daß sie die geringe Kraft, welche es besitzt, um nach seinem Willen zu leben, dem ihrigen unterwerfen, daß sie die gegenseitige Abhängigkeit, in der sie beiderseits durch die kindliche Schwachheit, wie durch die elterliche Liebe von einander erhalten werden, in Sklaverei des einen oder des andern Theiles verwandeln.
    Der vernünftige Mann versteht sich in seiner Stellung zu behaupten; das Kind jedoch, welches die seinige nicht begreift, würde sich nicht durch sich selbst in derselben erhalten können. Es findet unter uns tausend Wege, sich aus ihr zu entfernen. Es ist nun die Aufgabe derer, die seine Leitung unternommen haben, es darin zu erhalten, und diese ist fürwahr nicht leicht. Es soll weder einen thierischen, noch einen männlichen Charakter zeigen, sondern es soll ein Kind sein; es muß seine Schwäche fühlen, und darf doch nicht darunter leiden; es muß abhängig sein und doch frei von knechtischem Gehorsam, es soll bitten und nicht befehlen. Es ist Andern nur in Folge seiner Bedürfnisse unterworfen und weil sie eine bessere Einsicht von dem besitzen, was ihm dienlich oder schädlich, für seine Erhaltung zuträglich oder nachtheilig ist. Niemand, nicht einmal der Vater, hat das Recht, dem Kinde zu befehlen, was nicht zu seinem Besten dient.
    Bevor die Vorurtheile und die menschlichen Einrichtungen unsere natürlichen Neigungen verderbt haben, besteht das Glück der Kinder eben so wie das der Erwachsenen in dem unbeschränkten Genusse der Freiheit; allein diese Freiheit wird bei den ersteren durch ihre Schwächebeschränkt. Wer thut, was er will, ist glücklich, sobald er sich selbst genug ist; das wird stets bei dem Menschen der Fall sein, welcher im Naturzustande lebt. Wer dagegen thut, was er will, während doch seine Bedürfnisse seine Kräfte übersteigen, der ist nicht glücklich; das ist bei dem Kinde der Fall, trotzdem es sich in dem nämlichen Zustande befindet. Sogar im Naturzustande genießen die Kinder nur einer unvollkommenen Freiheit, derjenigen ungefähr ähnlich, welche ein Erwachsener im bürgerlichen Leben genießt. In dieser Beziehung verfällt jeder von uns, da wir einander einmal nicht entbehren können, wieder in Schwäche und Elend. Wir sind geschaffen, Männer zu werden; die Gesetze und die Gesellschaft haben uns aber wieder in den Zustand der Kindheit zurückversetzt. Die Reichen, die Großen, die Könige, sie sind alle nichts weiter als Kinder, welche, da sie sehen, daß sich Jeder bemüht, auch die kleinste Unannehmlichkeit von ihnen fern zu halten, dadurch allmählich wahrhaft kindisch eitel werden, und die förmlich stolz auf Dienstleistungen sind, die man ihnen, wenn sie echte Männer wären, nimmermehr erweisen würde.
    Diese Betrachtungen dürfen nicht unterschätzt werden; sie sind ganz dazu geeignet, alle Widersprüche der socialen Ordnung zu lösen. Es gibt zwei Arten von Abhängigkeit: die von den Dingen herrührende oder die natürliche, und die von den Menschen ausgehende oder die gesellschaftliche. Da die Abhängigkeit von den Dingen den sittlichen Charakter unberührt läßt, so erwächst der Freiheit daraus kein Nachtheil, noch erzeugt sie Laster; dagegen bilden diese sich sämmtlich aus der

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