Emil oder Ueber die Erziehung
machen. Mit Ausnahme der Kraft, der Gesundheit und eines guten Gewissens beruhen alle Güter dieses Lebens auf Ansichten; mit Ausnahme der körperlichen Schmerzen und der Gewissensbisse beruhen alle Uebel in der Einbildung. Das ist, wird man sagen, ein allgemein allerkannter Satz; ich räume es ein; allein die praktische Anwendung desselben ist nicht allgemein, und gerade um die praktische Verwerthung handelt es sich hier ausschließlich.
Was will man mit der Behauptung sagen, der Mensch sei schwach? Das Wort Schwäche bezeichnet eine Beziehung, eine Beziehung des Wesens, auf welche man es anwendet. Dasjenige Wesen, dessen Kraft größer ist als seine Bedürfnisse erheischen, ist stark, und wäre es nur ein Insect oder ein Wurm; dasjenige dagegen, dessen Bedürfnisse größer sind als die zu ihrer Befriedigung erforderliche Kraft, ist ein schwaches Wesen, und wäre es ein Elephant oder ein Löwe, ein Eroberer oder ein Held, ja wäre es sogar ein Gott. Der abtrünnige Engel, welcher seine Natur verkannte, war schwächer als der glückliche Sterbliche, der seiner Natur gemäß in Frieden lebte. Der Mensch ist sehr stark, sobald er sich damit begnügt, nur das zu sein, was er ist; er ist sehr schwach, wenn er sich über die Menschheit erheben will. Bildet euch deshalb nicht etwa ein, daß ihr durch Ausbildung eurer Fähigkeiten auch gleichzeitig eure Kräfte erhöht; ihr schwächt sie im Gegentheile, wenn sich euer Stolz höhere Ziele steckt, als sie zu erreichen vermögen. Lasset uns den Radius unseres Kreises genau abmessen und im Mittelpunkte desselben wie eine Spinne inder Mitte ihres Netzes bleiben; dann werden wir uns immer selbst genug sein und uns nicht über unsere Schwäche zu beschweren brauchen, weil wir sie nie empfinden werden.
Alle Thiere haben genau die zu ihrer Erhaltung nötigen Fähigkeiten; der Mensch allein ist mit höheren Kräften ausgerüstet. Ist es nicht eigenthümlich, daß gerade diese höhere Begabung die Wurzel seines Unglücks ist? Noch in jedem Lande haben die Arme eines Menschen mehr als die notdürftigsten Subsistenzmittel zu erwerben vermocht. Wäre der Mensch weise genug, diesem Ueberschuß gar keinen Werth beizulegen, so würde er stets das Notwendige haben, da er niemals zu viel hätte. Die großen Bedürfnisse, behauptet Favorin, seien eine Folge der großen Besitzthümer, und oft sei das beste Mittel sich das, woran man Mangel leide, zu verschaffen, daß man das wieder hingebe, was man besitze. [2]
Dadurch, daß wir uns ewig abmühen, unser Glück zu erhöhen, verwandeln wir es selbst in Unglück. Jeder Mensch, der nur den Wunsch zu leben hätte, würde glücklich leben, und folglich würde er auch gut und rechtschaffen sein, denn welchen Vortheil könnte es ihm wol bringen, schlecht zu sein?
Wären wir unsterblich, würden wir höchst unglückliche Wesen sein. Es ist unzweifelhaft hart, zu sterben, allein süß ist es, die Hoffnung hegen zu dürfen, daß man nicht ewig leben werde, und daß ein bessres Leben die Leiden des gegenwärtigen enden werde. Wer [3] würde wol, wenn man ihm die Unsterblichkeit auf Erden anböte, dieses traurige Geschenk annehmen wollen? Welche Hilfe, welche Hoffnung, welcher Trost würden uns wol gegen die Härte des Schicksals und gegen die Ungerechtigkeiten der Menschen noch bleiben? Der Unwissende, dem es an Voraussicht fehlt, fühlt den Werth des Lebens wenig und fürchtet eben so wenig es zu verlieren; der aufgeklärte Mensch kennt werthvollere Güter, welche er um deswillen dem Leben vorzieht. Nur die Halbwisserei und Afterweisheit stellenuns den Tod, indem sie unsere Blicke nur auf ihn, aber nicht auf das lenken, was hinter ihm liegt, als das größte aller Uebel dar. Die Notwendigkeit zu sterben ist für den Weisen nur ein Grund, die Leiden des Lebens zu ertragen. Wenn man nicht sicher wäre es einmal zu verlieren, so würde seine Erhaltung fürwahr den Preis nicht werth sein, den man dafür zu zahlen hat.
Unsere moralischen Uebel beruhen alle, ein einziges, das Laster, ausgenommen, auf Einbildung, und dieses eine hängt von uns ab. Unsere physischen Uebel zerstören entweder sich selbst oder sie zerstören uns. Die Zeit oder der Tod sind unsere Heilmittel dagegen; aber wir leiden um so mehr, je weniger wir zu leiden verstehen, und wir bereiten uns durch das Bestreben unsere Krankheiten zu heilen mehr Qualen, als uns die ruhige Erduldung derselben zuzufügen im Stande wäre. Lebe naturgemäß, sei geduldig und lasse dich nicht mit Aerzten
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