Emil oder Ueber die Erziehung
seufzt er, reißt sich die Haare aus, bricht in lautes Klagen aus und scheint von krampfartigen Zuckungen befallen. Thörichter, welches Leid kann dir dieses Papier bereitet haben? Welches Gliedes hat es dich beraubt? Zu welchem Verbrechen hat es dich verführt? Kurz, welche Veränderung hat es in dir bewirkt, um dich in den Zustand, in welchem ich dich erblicke, versetzen zu können?
Wenn dieser Brief sich verirrt, wenn eine wohlmeinende Hand ihn in das Feuer geworfen hätte, so würde meiner Ansicht nach das Schicksal dieses zugleich glücklichen und unglücklichen Menschen ein eigenthümliches Problem sein. Sein Unglück, werdet ihr sagen, war ein wirkliches. Nun gut, aber er fühlte es nicht. Worin bestand es also? Sein Unglück, wendet ihr ein, war ein eingebildetes. Ich verstehe; nach eurer Meinung sind also Gesundheit, Heiterkeit, Wohlsein, Seelenfrieden nichts als Gebilde der Phantasie! Dann freilich ist die Wirklichkeit aus unserm Dasein verbannt und wir stehen nur unter der Herrschaft des Scheins. Verlohnt es sich dann der Mühe, sich in so hohem Grade vor dem Tode zu fürchten, vorausgesetzt, daß das bleibt, worin wir leben und weben?
O Mensch, suche dein wahres Glück in dir selbst, und du wirst dich nicht mehr elend fühlen! Halte an dem Platze aus, den dir die Natur in der Kette anweist, dann wird nichts dich aus demselben zu entfernen vermögen. Sträube dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit und erschöpfe nicht im thörichten Versuche, derselben Widerstand entgegenzusetzen, die Kräfte, die dir der Himmel nicht zur Erweiterung und Verlängerung, sondern nur zur Erhaltung deines Daseins, wie es ihm gefällt und so lange es ihm gefällt, gegeben hat. Deine Freiheit und deine Macht erstrecken sich nur über das Gebiet deiner natürlichen Kräfte und nicht darüber hinaus, alles Uebrige ist nur Sklaverei, Illusionen, Blendwerk. Sogar die Herrschaft trägt einen knechtischen Charakter, sobald sie sich auf Vorurtheile gründet, denn dann hängst du wieder von den Vorurtheilen derer ab, die du durch Vorurtheile beherrschest. Um sie nach deinem Gefallen zu lenken, mußt du dich auch von ihrem Gefallen und Bedünken lenken lassen. Sie brauchen nur einmal ihre Denkweise zu ändern, und du wirst dann sofort deine Handlungsweise ändern müssen. Die Personen, welche in deiner Nähe leben, brauchen nur zu verstehen, die Meinungen des Volkes, welches du beherrschen sollst, oder der Günstlinge; die dich wirklich beherrschen, oder die deiner Familie, oder deine eigenen zu leiten, und diese Veziere, diese Höflinge, diese Priester, diese Soldaten, diese Diener, diese Klatschschwestern, ja die ganze Stufenleiter bis zu den Kindern hinab, werden dich, und wenn du an Geist ein Themistokles wärst, [4] inmitten deiner Legionen wie ein Kind leiten. Trotz aller Anstrengungen wird deine wirkliche Autorität nie weiter als deine wirkliche Macht reichen. Sobald du durch die Augen Anderer sehen mußt, so muß sich auch folgerecht dein Wille in ihren Willenfügen. Meine Völker sind meine Unterthanen, sagst du stolzen Gefühls. Aber was bist denn du? Der Unterthan deiner Minister. Und was sind deine Minister ihrerseits? Die Unterthanen ihrer Beamten, ihrer Maitressen, die Diener ihrer Diener. Erobert Alles, raubet Alles und streuet dann das Geld mit vollen Händen aus, lasset Batterien auffahren, errichtet Galgen und Räder, erlasset Gesetze und Verordnungen, vermehrt die Spione, die Söldlinge, die Henker, die Gefängnisse und die Ketten, – und doch, wozu nützt euch dies Alles, ihr armen Menschenkinder? Ihr werdet deshalb nicht besser bedient, noch weniger bestohlen oder hintergangen, nicht unumschränkter werden. Ihr werdet beständig sagen: »Wir wollen«, und trotzdem beständig das thun, was Andere wollen.
Der allein führt seinen Willen aus, welcher sich zur Vollstreckung desselben nicht fremder Arme zu bedienen braucht, woraus folgt, daß das höchste aller Güter nicht die Autorität, sondern die Freiheit ist. Der wahrhaft freie Mann will nur, was er vermag, und handelt nach eigenem Gefallen. Das ist mein Fundamentalgrundsatz. Es handelt sich dabei nur darum, ihn auf die Kindheit anzuwenden, und alle Regeln der Erziehung lassen sich daraus ableiten.
Die Gesellschaft hat die Schwäche des Menschen vergrößert, nicht allein dadurch, daß sie ihm das Verfügungsrecht über seine eigenen Kräfte entzogen hat, sondern vor Allem dadurch, daß dieselben durch ihre Schuld unzulänglich für ihn geworden
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