Emil oder Ueber die Erziehung
sein Wohlsein zu thun vermögen. Das Uebrige hängt von Zufälligkeiten ab, die nicht in unserer Gewalt stehen.
Absolutes Glück oder Unglück kennen wir nicht. Alles ist in diesem Leben gemischt; man genießt in demselben kein Gefühl ganz rein, verharrt nicht zwei Augenblicke in demselben Zustande. Geistig wie körperlich befinden wir uns in fortwährenden Schwankungen. Gutes wie Böses ist unser gemeinsames Erbtheil, wenn auch in verschiedenem Maße. Der Glücklichste ist derjenige, welcher am wenigsten Noth und Sorgen zu erfahren hat, der Unglücklichste, wer am wenigsten Freude empfindet. Trotz aller Verschiedenheit des Erdenlooses ist es doch darin bei Allen gleich, daß wir mehr bittere als freudvolle Stunden durchzumachen haben. Hienieden ist deshalb das Glück des Menschen nur ein negativer Zustand; man kann es lediglich nach der geringeren Anzahl der zu erduldenden Uebel bemessen.
Von jedem Schmerzgefühl ist der Wunsch, davon erlöst zu werden, unzertrennlich; mit jeder Vorstellung eines Vergnügens geht der Wunsch, dasselbe zu genießen, Hand in Hand. Jeder Wunsch setzt eine Entbehrung voraus, und alle Entbehrungen, deren man sich bewußt wird, sind schmerzlich; aus diesem Grunde besteht unser Unglück in dem Mißverhältniß zwischen unseren Wünschen und unserer Fähigkeit, dieselben zu befriedigen. Ein empfindendes Wesen, das die Fähigkeit besäße, alle seine Wünsche zu erfüllen, würde ein absolut glückliches Wesen sein.
Worin besteht also die menschliche Weisheit oder der Weg zum wahren Glück? Nicht etwa darin, unsere Wünsche herabzustimmen; denn wenn dieselben nicht bis zu unserem Vermögen, sie zu befriedigen, gingen, würde ein Theil unsererKräfte müßig bleiben, und wir würden uns unseres Seins nicht nach jeder Richtung hin erfreuen können; auch nicht darin, unsere Fähigkeiten zu erweitern; denn wenn sich damit gleichzeitig unsere Wünsche in noch höherem Grade steigerten, würden wir nur desto elender werden; sondern darin, daß wir unsere Wünsche, wenn sie das gehörige Maß zu überschreiten beginnen, ganz unserer Fähigkeit, sie zu befriedigen, anpassen und unser Wollen mit unserem Können in völligen Einklang bringen. Deshalb wird die Seele nur dann ruhig bleiben und der Mensch sich wohl befinden, wenn alle Kräfte gleichmäßig in Thätigkeit sind.
So hat es die Natur, die Alles aufs Beste macht, von Anfang an eingerichtet. Unmittelbar flößt sie uns nur die zu unserer Erhaltung nothwendigen Triebe ein und rüstet uns mit den zu ihrer Befriedigung hinreichenden Kräften aus. Alle übrigen hat sie im Grunde unserer Seele gleichsam als Reserve aufgestellt, um sie sich dort je nach Bedürfniß entwickeln zu lassen. Nur in diesem primitiven Zustande stehen Wollen und Können im richtigen Gleichgewichte. Sobald indeß die virtuellen Kräfte des Menschen allmählich in Thätigkeit treten, erwacht die Einbildungskraft, die lebhafteste und thätigste von allen, und eilt ihnen allen vorauf. Die Einbildungskraft erweitert für uns im Guten wie im Bösen die Grenzen der Möglichkeit und erregt und unterhält folglich die Begierden durch die Hoffnung ihrer Befriedigung. Aber das Ziel derselben, das man anfangs schon erfassen zu können glaubt, flieht schneller, als man ihm zu folgen vermag; sobald man es erreicht zu haben glaubt, verwandelt es sich unter den Händen und zeigt sich in noch weiterer Ferne. Der durchmessenen Strecke schenken wir, da sie sich unseren Blicken entzieht, keine Beachtung, und die, welche wir noch zurückzulegen haben, vergrößert sich und dehnt sich unaufhörlich weiter aus. So muß man sich erschöpfen, ohne je das Ziel erreichen zu können, und je mehr wir der Genußsucht fröhnen, desto mehr flieht uns das wahre Glück.
Je weniger sich dagegen der Mensch von seinem natürlichen Zustande entfernt hat, desto geringer ist der Unterschied zwischen seinen Wünschen und seinen Fähigkeiten,dieselben zu befriedigen und desto weniger ist er folglich von dem wahren Glück entfernt. Er wird nie weniger unglücklich sein, als wenn er von Allem entblößt scheint, denn nicht im Mangel an sich besteht das Unglück, sondern darin, daß man sich des Mangels bewußt wird.
Die wirkliche Welt hat ihre Grenzen, die nur in der Einbildung bestehende ist unbegrenzt. Da wir nun die erstere nicht zu erweitern vermögen, so laßt uns die letztere einengen, denn allein aus dem zwischen ihnen herrschenden Zwiespalte entstehen alle die Leiden, die uns wahrhaft unglücklich
Weitere Kostenlose Bücher