Emil oder Ueber die Erziehung
als ein in dieser Weise erzogenes Kind. Von allen Fähigkeiten des Menschen entwickelt sich die Vernunft, die gleichsam nur der Inbegriff aller anderen ist, am schwierigsten und spätesten, und nun will man sich dieser bedienen, um die ersteren zu entwickeln! Das Meisterstück einer guten Erziehung besteht in der Bildung eines vernünftigen Menschen, und trotzdem vermeint man das Kind durch die Vernunft erziehen zu können! Das heißt beim Ende anfangen, das heißt das Werk zum Werkzeuge machen wollen. Wenn die Kinder auf vernünftige Vorstellungen hörten, brauchten sie nicht erzogen zu werden; da man aber von ihrem zartesten Alter an mit einer ihnen unverständlichen Sprache zu ihnen redet, gewöhnt man sie daran, sich mit Worten abspeisen zu lassen, an Allem, was man ihnen sagt, zu mäkeln, sich für eben so weise als ihre Lehrer zu halten, streitsüchtig und eigensinnig zu werden, und bei allem dem erlangt man, was man bei ihnen durch Vernunftgründe zu erlangen denkt, doch nur durch Erregung ihrer Lüsternheit, ihrer Furcht oder ihrer Eitelkeit, ohne welche Mittel man nicht zum Ziele kommt.
Ich füge hier ein Formular bei, auf welches sich fast alle moralische Belehrungen, die man den Kindern gibt oder geben kann, zurückführen lassen.
Der Lehrer . Das darf man nicht thun.
Das Kind . Und warum darf man es nicht thun?
Der Lehrer . Weil es unrecht ist.
Das Kind . Unrecht? Was heißt unrecht thun?
Der Lehrer . Thun, was man dir verbietet.
Das Kind. Welchen Nachtheil kann es mir bereiten, wenn ich thue, was man mir verbietet?
Der Lehrer. Du erhältst Strafe, weil du ungehorsam gewesen bist.
Das Kind. Ich werde es schon so einrichten, daß man es nicht erfährt.
Der Lehrer. Man wird dich beobachten.
Das Kind. Ich werde mich verstecken.
Der Lehrer. Man wird dich ausfragen.
Das Kind. Ich werde lügen.
Der Lehrer. Man darf nicht lügen.
Das Kind. Weshalb darf man nicht lügen?
Der Lehrer. Weil es unrecht ist, u.s.w.
In diesem unvermeidlichen Cirkel wird man sich stets bewegen müssen. Sobald ihr euch aus demselben entfernt, versteht euch das Kind nicht mehr. Sind das nicht sehr nützliche Lehren? Ich wäre in der That gespannt zu erfahren, was man an die Stelle dieses Gesprächs setzen könnte? Sogar Locke würde dabei unfehlbar in Verlegenheit gerathen sein. Das Gute und das Böse zu unterscheiden, den Grund der menschlichen Pflichten zu erkennen, übersteigt die Fähigkeiten eines Kindes.
Die Natur will, daß die Kinder, ehe sie Männer werden, Kinder sein sollen. Wenn wir diese Ordnung umkehren wollen, so bringen wir vorzeitige Früchte hervor, denen es an der gehörigen Reife wie an dem rechten Geschmacke fehlt und die in Kurzem verdorben werden. Die Kindheit hat eine nur ihr eigene Art und Weise zu sehen, zu denken, zu empfinden; nichts kann ungereimter sein, als das Bemühen, ihr dafür die unsrige unterzuschieben; ich könnte von einem zehnjährigen Kinde eben so gut verlangen, daß es fünf Fuß groß wäre, als daß ich von ihm ein richtiges Urtheil begehrte. Wozu sollte ihm denn auch die Vernunft in diesem Alter dienen? Sie ist der Zügel der Kraft, und das Kind bedarf dieses Zügels nicht.
Indem ihr eure Zöglinge von der Pflicht des Gehorsams zu überzeugen sucht, begnüget ihr euch doch mit dieser angeblichen Ueberzeugung nicht, sondern nehmet noch zu Gewalt und Drohungen, oder was schlimmer ist, zuSchmeicheleien und Versprechungen eure Zuflucht. Obgleich sie also eigentlich nur ihr eigenes Interesse dabei im Auge haben oder durch Gewalt gezwungen werden, stellen sie sich gleichwol, als ob sie sich durch Vernunftgründe hätten überzeugen lassen. Sie sehen sehr wohl ein, daß ihnen Gehorsam vorteilhaft und Widersetzlichkeit nachtheilig ist, sobald ihr das Eine oder das Andere bemerkt. Allein da ihr nichts von ihnen verlangt, was ihnen nicht unangenehm wäre, und da es außerdem immer peinlich ist, sich nach dem Willen Anderer richten zu müssen, so führen sie den ihrigen im Geheimen doch aus, in der vollen Ueberzeugung recht zu handeln, wenn ihr Ungehorsam nur verschwiegen bleibt, aber auch zugleich bereit, im Falle der Entdeckung ihr Unrecht einzugestehen, aus Furcht, sonst eine härtere Strafe zu erhalten. Da sich in ihrem Alter die Pflicht nicht durch Vernunftgründe klar machen läßt, so wird es auch keinen Menschen auf der Welt geben, dem es gelingen würde, sie in Wahrheit für dieselbe empfänglich zu machen. Trotzdem wird ihnen die Furcht vor Strafe, die Hoffnung auf
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