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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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vermögen, sogar noch ehe der Körper sich vollständig entwickelt hat. Mit jeder vorzeitigen Belehrung, mit der man die Köpfe der armen Kinder beschweren will, pflanzt man ein Laster in den Grund ihrer Herzen. Unverständige Lehrer glauben Wunder zu leisten, wenn sie alle möglichen Unarten in ihnen hervorrufen, um ihnen den Begriff des Gutseins beizubringen, und dann sagen sie uns gravitätisch: »So ist der Mensch!« Ja, so ist der Mensch, welchen ihr gebildet habt!
    Man hat alle Mittel versucht, eins ausgenommen, und zwar gerade das einzige, welches im Stande ist ein glückliches Resultat herbeizuführen: die zweckmäßig geregelte Freiheit. Man darf nicht das Amt, ein Kind zu erziehen, übernehmen, wenn man nicht versteht, es durch die bloßenGesetze des Möglichen und Unmöglichen zu leiten, wohin man will. Da ihm die Grenze des Einen eben so unbekannt ist wie die des Anderen, so kann man sie rings um sich her nach Belieben erweitern oder verengern. Man fesselt es, treibt es vorwärts, hält es zurück allein durch das Band der Nothwendigkeit, ohne daß es darüber murrt; durch die bloße Macht der Verhältnisse macht man es fügsam und willig, ohne daß je ein Laster Gelegenheit fände, in ihm emporzukeimen; denn nie entzünden sich die Leidenschaften, wenn sie erfolglos bleiben.
    Ertheilet eurem Zöglinge keine Art mündlicher Belehrung, die Erfahrung allein muß sie ihm geben; belegt ihn mit keiner Art Strafe, denn er weiß nicht, was es heißt, ein Versehen begangen zu haben; laßt ihn niemals um Verzeihung bitten, denn er vermag euch nicht zu beleidigen. Sich keines moralischen Gesetzes bei seinen Handlungen bewußt, kann er auch nichts thun, was moralisch schlecht wäre und Strafe oder Verweis verdiente.
    Ich sehe schon, wie der erschreckte Leser dieses Kind nach den unsrigen beurtheilt. Er irrt sich. Der fortwährende Zwang, in welchem ihr eure Zöglinge erhaltet, erregt ihre Lebendigkeit noch mehr; je gezwungener sie sich unter euren Augen fühlen, desto wilder sind sie von dem Augenblicke an, wo sie sich selbst überlassen sind; sie müssen sich doch für den harten Zwang, in welchem ihr sie haltet, wenn sie irgend können, entschädigen. Zwei Stadtkinder werden auf dem Lande mehr Schaden anrichten, als die ganze Dorfjugend. Schließet ein junges Herrchen und einen Bauerjungen zusammen in ein Zimmer ein; bevor sich noch letzterer von der Stelle bewegt hat, wird der erstere schon Alles auf die Erde geworfen, Alles zerbrochen haben. Der Grund kann nur darin liegen, daß der Eine sich beeilt, den seltenen Augenblick völliger Freiheit zu mißbrauchen, während der Andere, der seiner Freiheit stets sicher ist, keine Ursache findet, sofort davon Gebrauch zu machen. Und gleichwol sind die Bauerkinder, bei deren Erziehung Liebkosungen und Härte wechseln, noch weit von dem Zustande entfernt, in welchem man, wenn es nach mir geht, die Kinder halten muß.
    Stellen wir als unbestreitbaren Grundsatz auf, daß die ersten natürlichen Triebe stets gut sind; es gibt im menschlichen Herzen keine angeborene Verderbtheit; kein einziger Fehler findet sich darin, von dem sich nachweisen ließe, wie und wodurch er in dasselbe eingedrungen ist. Die einzige Leidenschaft des Menschen, welche als eine Mitgift der Natur betrachtet werden kann, ist die Selbstliebe oder die Eigenliebe im weiteren Sinne. Diese Eigenliebe an sich oder in Beziehung auf uns ist gut und nützlich, und da mit ihr durchaus keine nothwendige Beziehung auf Andere verbunden ist, so ist sie in dieser Hinsicht von Natur indifferent. Nur durch die Anwendung, welche man von ihr macht, und durch die Beziehungen, welche man ihr gibt, wird sie gut oder böse. Bis zu dem Momente, wo der Führer der Eigenliebe, nämlich die Vernunft, hervorzutreten vermag, ist es folglich von Wichtigkeit, daß ein Kind nichts deshalb thue, weil es gesehen oder gehört werden kann, mit einem Worte nichts aus Rücksicht auf Andere thue, sondern lediglich das, was die Natur von ihm verlangt, und dann wird es nur Gutes thun.
    In den Augen des Geizes gewinnt Manches einen bösen Anstrich, was in den Augen der Vernunft nicht böse ist. Läßt man der Ausgelassenheit der Kinder völlig freien Lauf, so ist es freilich rathsam, alles aus ihrer Nähe zu verbannen, wodurch sie theuer zu stehen kommen könnte, und nichts Zerbrechliches und Kostbares in ihrem Bereiche zu lassen. Ihre Stube muß mit starken und dauerhaften Möbeln ausgestattet sein; kein Spiegel, kein Porcellan, keine

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