Emil oder Ueber die Erziehung
das Brüllen eines Löwen den ThierenSchrecken einjagt, daß sie Zittern überfällt, wenn sie seinen entsetzlichen Kopf erblicken; allein will man je ein die Gefühle empörendes, verächtliches und lächerliches Schauspiel genießen, so betrachte man sich eine Schaar Beamten, wie sie, den Vorsteher an ihrer Spitze, in vollem Galaanzuge sich vor einem Wickelkinde niederwerfen und an dasselbe eine feierliche Ansprache in den schwülstigsten Ausdrücken richten, auf die es keine andere Antwort als Schreien und Geifern findet.
Gibt es wol, wenn wir die Kindheit an und für sich selbst betrachten, auf der Welt ein schwächeres, elenderes, von der Willkür seiner Umgebung abhängigeres Wesen als ein Kind, ein Wesen, das in so hohem Grade des Mitleids, der Pflege und des Schutzes bedarf? Scheint es nicht, als ob es nur deshalb eine so zarte und liebliche Gestalt und so rührende Züge erhalten habe, damit Jeder, der in seine Nähe kommt, ihm in seiner Schwäche beispringe und sich beeifere ihm zu helfen? Gibt es etwas Abstoßenderes und Unnatürlicheres, als den Anblick eines gebieterischen und eigensinnigen Kindes, welches seiner ganzen Umgebung Befehle ertheilt und denen gegenüber, die es nur zu verlassen brauchen, um es umkommen zu lassen, ungescheut den Ton des Herrn annimmt?
Wer wollte andererseits nicht einsehen, daß die Schwäche des ersten Alters die Kinder schon dergestalt hemmt und behindert, daß es wahrhaft barbarisch wäre, diesem Zwange noch den unserer Launen hinzuzufügen, indem wir ihnen eine so beschränkte Freiheit entziehen, die sie so wenig mißbrauchen können und deren Entziehung ihnen eben so wenig Vortheil bringt als uns? Wenn es nichts gibt, was mehr unsern Spott herausfordert, als ein hochmüthiges Kind, so gibt es auch nichts, was so sehr unser Mitleid erregt, als ein eingeschüchtertes. Warum wollen wir, da mit dem Alter der Vernunft doch schon die bürgerliche Sklaverei beginnt, derselben noch die Privatsklaverei vorausgehen lassen? Wir wollen es ruhig mit ansehen, daß von diesem Joche, das die Natur uns nicht auferlegt hat, doch ein Augenblick des Lebens befreit sei, und den Kindern den Gebrauch der natürlichen Freiheit gestatten, welchesie wenigstens eine Zeit lang von den Lastern fern hält, die man unter der Sklaverei annimmt. Mögen doch diese strengen Lehrer, mögen doch diese ihre Kinder in knechtischer Furcht erhaltenden Väter mit ihren kleinlichen und nichtigen Einwürfen hervortreten und einmal die Methode der Natur kennen lernen, bevor sie ihre eigenen herausstreichen.
Ich kehre zur Praxis zurück. Ich habe bereits ausdrücklich gesagt, daß euer Kind nie deshalb etwas erhalten darf, weil es dasselbe verlangt, sondern nur, weil es dessen bedarf, [6] ferner daß es nichts blos aus Gehorsam thun soll, sondern weil es die Notwendigkeit erheischt. Deshalb müssen die Wörter gehorchen und befehlen und noch mehr die Ausdrücke Pflicht und Schuldigkeit aus seinem Wörterbuche gestrichen werden; dagegen muß den Wörtern Kraft, Notwendigkeit, Ohnmacht und Beschränkung darin ein großer Platz eingeräumt werden. Vor dem Alter der Vernunft vermag man mit Ausdrücken wie »moralische Wesen« oder »gesellschaftliche Beziehungen« keinen richtigen Begriff zu verbinden. Man muß deshalb die Anwendung solcher Wörter, die dergleichen Ideen ausdrücken, möglichst vermeiden, weil zu befürchten ist, daß das Kind denselben anfangs falsche Ideen unterlege, die später wieder auszurotten es uns an Einsicht und Macht gebricht. Die erste falsche Idee, die es in sich aufnimmt, bildet in ihm den Keim des Irrthums und des Lasters; gerade auf diesen ersten Schritt muß man demnach vorzugsweise sein Augenmerk richten. Sorget dafür, daß, so lange es nur unter den Eindrücken sinnlicher Gegenstände steht, sich auch alle seine Ideen nur in der Sinnenwelt bewegen; sorget, daß es rings um sich her, nach allen Richtungen hin, nurdie physische Welt wahrnehme; sonst könnt ihr dessen sicher sein, daß es entweder gar nicht auf euch hören oder sich von der moralischen Welt, von der ihr zu ihm redet, völlig phantastische Vorstellungen machen wird, Vorstellungen, die ihr nie wieder bei ihm werdet verwischen können.
In der Forderung, durch Vernunftgründe auf die Kinder einzuwirken, gipfelt sich Lockes Hauptgrundsatz, welchem ! man heut zu Tage vielfach huldigt. Der Erfolg desselben scheint mir jedoch wenig zu seinen Gunsten zu sprechen; und mir wenigstens ist nie etwas Einfältigeres vorgekommen,
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