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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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betrachtet, sein Spiel damit treiben, sie zu geben und zu brechen. Wollt ihr, daß es treu und ehrlich seinWort halte, nun, so seid vorsichtig im Fordern von Versprechungen.
    Die Einzelheiten, die ich hier in Bezug auf die Lüge weitläufig erörtert habe, können in vieler Beziehung auch auf alle übrige Pflichten Anwendung finden, welche man den Kindern in einer Form vorschreibt, daß sie ihnen nicht nur verhaßt, sondern auch unausführbar werden. Unter dem Scheine ihnen die Tugend zu predigen, flößt man ihnen Liebe zu allen Lastern ein. Man impft sie ihnen ein, während man sie vor denselben warnt. Um sie fromm zu machen, müssen sie sich in der Kirche langweilen. Dadurch, daß man sie unaufhörlich Gebete hermurmeln läßt, zwingt man sie, sich nach dem Glücke zu sehnen, nicht mehr zu Gott beten zu brauchen. Um ihnen Mildthätigkeit einzuflößen, läßt man sie Almosen geben, als ob man verschmähe, sie selbst zu geben. Nein, nicht das Kind muß sie geben, sondern der Lehrer! Wie lieb er seinen Zögling auch immer haben möge, diese Ehre muß er ihm doch streitig machen. Er muß ihm begreiflich machen, daß man in seinem Alter derselben noch nicht würdig sei. Almosengeben gebührt dem Manne, der den Werth seiner Gabe und das Bedürfniß seines Nächsten kennt. Da das Kind weder das Eine noch das Andere zu ermessen versteht, kann es beim Geben auch kein Verdienst für sich in Anspruch nehmen; es gibt ohne Mildthätigkeit, ohne Wohlthätigkeitssinn; es schämt sich fast zu geben, wenn es, auf sein und euer Beispiel gestützt, zu dem Wahne kommt, daß es sich nur für Kinder zieme Almosen zu spenden, aber nicht für Erwachsene.
    Erwäget auch, daß man durch das Kind immer nur solche Dinge verschenken läßt, deren Werth es nicht kennt, Stückchen Metall, die es nur zu diesem Zwecke in seiner Tasche trägt. Ein Kind würde lieber hundert Goldstücke als einen Kuchen fortgeben. Fordert aber einmal einen solchen freigebigen Almosenvertheiler auf, Dinge wegzuschenken, die ihm lieb sind, Spielzeug, Bonbons, sein Vesperbrod, und wir werden bald zu sehen bekommen, ob es euch in der That geglückt ist, das Kind freigebig zu machen.
    Man bedient sich in diesem Punkte auch wol noch eines anderen Auskunftsmittels; man erstattet nämlich dem Kinde das, was es fortgegeben hat, schleunigst wieder. Auf diese Weise gewöhnt es sich freilich daran, wenigstens das zu verschenken, wovon es weiß, daß es dasselbe wieder erhalten wird. Ich habe bei Kindern kaum je eine andere als eine von diesen beiden Arten von Freigebigkeit gefunden, das nämlich fortzuschenken, was für sie keinen Werth hat, oder das, wovon sie sicher sind, es wieder zu erhalten. Sorget dafür, sagt Locke, sie durch die Erfahrung davon zu überzeugen, daß der Freigebigste stets den größten Lohn davonträgt. Das heißt denn doch nichts Anderes, als das Kind nur scheinbar freigebig, in Wahrheit aber geizig machen. Er fügt hinzu, daß den Kindern dadurch die Freigebigkeit zur zweiten Natur werden würde. Unstreitig, aber nur jene wucherische Freigebigkeit, die ein Ei hingibt, um ein Rind dafür zu erhalten. Gilt es jedoch einmal im Ernste zu geben, dann fahre hin, Gewohnheit! Sobald man aufhören wird, ihnen für das Verschenkte Ersatz zu leisten, werden sie auch aufhören zu spenden. Darauf muß man sein Augenmerk richten, daß die Freigebigkeit eher der Gewohnheit der Seele als der der Hände entspringe. Aehnlich wie mit dieser Tugend verhält es sich mit allen übrigen, welche man die Kinder lehrt. Gerade dadurch, daß man ihnen diese ächten Tugenden nur fortwährend predigt, verbittert man ihnen ihre jungen Jahre. Ist das nicht eine weise Erziehung?
    Lehrer, unterlasset dergleichen Firlefanzereien! Seid tugendhaft und gut, damit euer Beispiel sich dem Gedächtnisse eurer Zöglinge einpräge, bis es in ihre Herzen dringen kann. Anstatt mich zu beeilen, von dem meinigen Werke der Mildthätigkeit zu verlangen, halte ich es für geeigneter, selbst solche in seiner Gegenwart zu thun und ihm sogar die Mittel zu entziehen, nur darin nachzueifern, damit er darin eine Ehre erkenne, die seinem Alter noch nicht gebührt, denn es ist von Wichtigkeit, daß er sich nicht daran gewöhne, die Menschenpflichten nur als Kinderpflichten aufzufassen. Sieht mich mein Zögling Arme unterstützen und befragt mich darüber, so werde ich, fallses an der Zeit ihm zu antworten ist, [14] zu ihm sagen: »Mein Freund, als die Armen gestatteten, daß es Reiche gäbe, haben die

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