Emil oder Ueber die Erziehung
daß mit den Jahren Alles in belebende Wärme und wirkliche Kraft übergeht. Andrenfalls werdet ihr Zeit und Mühe umsonst verschwenden, euer eigenes Werk zerstören, und nachdem ihr euch unbesonnen an all diesen entzündlichen Dünsten berauscht habt, wird euch nichts übrig bleiben als ein kraftloser Bodensatz.
Vielversprechende, sich bemerkbar machende Kinder pflegen gewöhnliche Menschen zu werden, das ist ein anerkannter und richtiger Erfahrungssatz. Nichts ist schwieriger, als bei den Kindern die wirkliche Beschränktheit von der nur scheinbaren und trügerischen, welche das Anzeichen starker Seelen ist, zu unterscheiden. Es scheint anfänglich befremdend, daß diese beiden Extreme einander so ähnliche Kennzeichen haben, indeß ist dies gar nicht anders möglich;denn in einem Alter, in welchem der Mensch noch keine wahren Ideen hat, besteht der ganze Unterschied zwischen dem Begabten und dem Beschränkten darin, daß sich der Letztere nur falsche Ideen aneignet, der Erstere dagegen, da sich ihm keine andern darbieten, lieber auf alle verzichtet. Sie ähneln einander also insofern, daß der Eine zu nichts fähig ist, während dem Andren nichts gut genug scheint. Das einzige Kennzeichen, welches ihre Verschiedenheit hervortreten läßt, hängt vom Zufall ab. Er macht den Letzteren vielleicht mit irgend einer seine Fassungskraft nicht übersteigenden Idee bekannt, während der Erstere beständig derselbe bleibt. Der junge Cato galt während seiner Kindheit in seiner ganzen Familie für einen Schwachkopf. »Er ist schweigsam und starrköpfig,« lautete das einstimmige Urtheil. Erst in dem Vorzimmer des Sulla lernte ihn sein Onkel recht kennen. Wäre er nicht in dies Vorzimmer gekommen, so hätte er vielleicht bis zum Alter der Vernunft für einen Dummkopf gegolten. Hätte kein Cäsar gelebt, so hätte man vielleicht diesen nämlichen Cato, welcher das unheilvolle Genie desselben durchschaute und alle seine Pläne, wenn sie auch noch so weit ausgesponnen waren, voraussah, immer für einen Träumer gehalten. O wie leicht kann sich doch Jeder täuschen, der so vorschnell über die Kinder aburtheilt! Er ist oft mehr ein Kind als diese selbst. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ein Mann [16] in schon vorgerückterem Lebensalter, der mich mit seiner Freundschaft beehrte, bei seiner Familie wie bei seinen Freunden in dem Rufe eines beschränkten Kopfes stand; in der Stille reifte hier aber ein ausgezeichneter Geist heran. Plötzlich enthüllte er sich als hervorragender Philosoph, und ich zweifle nicht, daß ihm die Nachwelt einen ehrenvollen und glänzenden Platz unter den tüchtigsten Philosophen und tiefsten Metaphysikern seines Jahrhunderts anweisen wird.
Achtet die Kinder und urtheilt nicht vorschnell über sie, weder im Guten noch im Bösen. Glaubt ihr, daß ihr es mit Ausnahmen zu thun habt, so laßt sich dieselben erstlange zeigen, bewähren und bestätigen, ehe ihr ihrethalben zu einer besonderen Methode greift. Gewähret der Natur einen langen Spielraum, bevor ihr an ihrer Stelle handelnd auftretet, und hütet euch, ihre Wirkungen zu verhindern. Ihr behauptet, den Werth der Zeit zu kennen, und wollt keine Zeit verlieren. Ihr sehet aber nicht ein, daß eine schlechte Anwendung der Zeit ein weit größerer Zeitverlust ist, als eine vollkommene Unthätigkeit, und daß ein schlecht unterrichtetes Kind der Weisheit weit ferner ist, als ein solches, welches man noch gar nicht unterrichtet hat. Ihr fühlt euch beunruhigt, wenn ihr es seine frühesten Jahre in voller Unthätigkeit hinbringen sieht! Wie? Dünkt euch glücklich sein nichts? Haltet ihr es für nichts, daß ein Kind den ganzen Tag fröhlich umherspringt, läuft und spielt? In seinem ganzen Leben wird es nicht wieder so beschäftigt sein. Plato erzieht in seiner Republik, deren Bestimmungen man gewöhnlich für so hart und streng hält, die Kinder unter lauter Festlichkeiten, Spielen, Gesängen und Zeitvertreib. Man könnte sagen, daß er Alles gethan zu haben glaubt, wenn er sie in der Kunst, sich zu belustigen, unterrichtet hat; und Seneca sagt an der Stelle, wo er von der alten römischen Jugend redet: »Sie war unaufhörlich auf den Beinen, man lehrte sie nichts, was sie hätte sitzend lernen müssen.« [17] Hatte dieselbe aber deshalb einen geringeren Werth, wenn sie das männliche Alter erreicht hatte? Heget also keine Furcht wegen dieses sogenannten Müßiggangs. Was würdet ihr wol von einem Manne sagen, der, um das Leben völlig auszunützen,
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