Emil oder Ueber die Erziehung
daß sich diese Nothwendigkeit bei Kindern, die erzogen sind, wie sie sein sollen, nur selten herausstellen wird, da sie unmöglich eigensinnig, boshaft, lügnerisch, habsüchtig werden können, wenn man die Laster, die sie dazu machen, nicht selbst in ihre Herzen gesäet hat. Demnach bezieht sich das, was ich über diesen Punkt gesagt habe, mehr auf die Ausnahmen als auf die Regeln, aber diese Ausnahmen werden um so häufiger sein, je mehr Gelegenheit die Kinder haben, aus ihrem Kreise herauszutreten und die Laster der Erwachsenen anzunehmen. Nothwendiger Weise bedürfen solche Kinder, die ihre Erziehung inmitten der großen Welt erhalten, eines früheren Unterrichts als diejenigen, welche man in der Einsamkeit erzieht. Diese Erziehung in stiller Zurückgezogenheit würde demnach schon aus dem Grunde den Vorzug verdienen, weil sie der Kindheit die zur Reife nöthige Zeit gewährt.Es gibt aber auch noch eine andere entgegengesetzte Art von Ausnahmen hinsichtlich derjenigen, welche glückliche Anlagen über ihr Alter befähigen. Wie es Menschen gibt, die nie das kindliche Wesen ablegen, so gibt es umgekehrt wieder andere, die so zu sagen niemals Kinder gewesen, sondern beinahe unmittelbar von der Geburt an in das männliche Alter getreten sind. Leider sind diese letzteren Ausnahmen sehr selten und sehr schwer zu erkennen, und ein weiterer Uebelstand ist, daß fast jede Mutter, in der Einbildung es gebe Wunderkinder nicht im Geringsten daran zweifelt, das ihrige gehöre zu denselben. Ja, noch mehr, sie halten die ganz alltäglichen und gewöhnlichen Erscheinungen, wie Lebhaftigkeit, glückliche Einfälle, Flatterhaftigkeit, fesselnde Naivetät, für etwas ganz Außerordentliches, während es doch nur die charakteristischen Merkmale dieses Alters sind, welche es am augenscheinlichsten beweisen, daß ein Kind eben nichts als ein Kind ist. Ist es wirklich etwas so Bewundernswerthes, wenn derjenige, den man unaufhörlich reden läßt, welchem man Alles zu sagen erlaubt, welcher sich um keine Rücksicht, um keine Anstandsregel zu kümmern braucht, zufälliger Weise auch einmal einen guten Einfall hat? Es würde im Gegentheile weit bewundernswerter sein, wenn es nicht so wäre, gerade wie es dasselbe Staunen erregen müßte, wenn der Astrolog unter tausend Lügen nicht auch einmal eine Wahrheit vorhersagte. Sie werden noch so lange lügen, sagte Heinrich IV., bis sie endlich einmal die Wahrheit sagen werden. Wer nach Witzen hascht, braucht nur recht viele Albernheiten zu sagen. Gott beschütze die armen Gecken, die keinen anderen Verdiensten ihre Bewunderung zu verdanken haben!
Wie die kostbarsten Diamanten in die Hände der Kinder, so können auch die glänzendsten Gedanken in das Gehirn, oder vielmehr die witzigsten Worte in den Mund derselben kommen, ohne daß darum die Gedanken oder die Diamanten ihnen angehören. In keiner Beziehung gibt es für dieses Alter ein wahres Eigenthum. Mit den Worten, die ein Kind spricht, verbindet es nicht dieselbe Bedeutung, die sie für uns haben; es legt ihnen nicht dieselbenBegriffe unter. Diesen Begriffen, wenn es überhaupt solche hat, fehlt es in seinem Kopfe an logischer Ordnung und Zusammenhang; in allen seinen eigenen Gedanken findet sich nichts Festes, nichts Bestimmtes. Prüfet einmal euer vermeintliches Wunderkind. In gewissen Augenblicken werdet ihr bei ihm allerdings den gewaltigsten Thätigkeitstrieb, eine Geistesschärfe finden, welche die Wolken durchdringt; gewöhnlich aber wird euch derselbe Geist schlaff, matt und wie von dichtem Nebel umhüllt erscheinen. Bald eilt er euch vorauf, bald bleibt er unbeweglich. In dem einen Augenblicke möchtet ihr ausrufen: »Es ist ein Genie!« und in dem nächsten: »Es ist ein Einfaltspinsel!« Ihr würdet euch beide Male täuschen; es ist eben nur ein Kind. Es ist ein junger Adler, der sich in einem Augenblicke in die Lüfte emporschwingt, und im nächsten wieder in sein Nest zurücksinkt.
Behandelt es deshalb, wie es euch auch in euren Augen erscheinen mag, seinem Alter gemäß, und hütet euch, seine Kräfte durch zu große Uebung und Anspannung derselben zu erschöpfen. Wenn sich das junge Gehirn erhitzt, wenn ihr gewahrt, daß es überzuschäumen beginnt, so lasset es Anfangs in Freiheit ausgähren, stachelt es aber niemals an, weil ihr sonst befürchten müßtet, daß es sich sonst ganz verdunste; und wenn nun die überschüssigen Dünste verdampft sein werden, dann haltet den übrig gebliebenen Geist zurück, zügelt ihn, bis
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