Emil oder Ueber die Erziehung
Anwendung dieser Methode sich je wieder beikommen ließe, absichtlich eine Scheibe zu zerbrechen. Lasset die Verkettung und den Zusammenhang alles dessen nicht außer Acht! Der kleine Uebelthäter dachte, als er ein Loch grub, um seine Bohne zu pflanzen, wol schwerlich daran, daß er sich damit zugleich das Fundament zu einem Gefängnisse ausgrübe, in welches ihn seine dabei erlangte Erkenntniß bald einschließen sollte. [11]
Damit sind wir denn nun in der moralischen Welt angekommen, damit ist auch dem Laster die Thür geöffnet. Mit den Verträgen und Pflichten entstehen gleichzeitig Betrug und Lüge. Sobald man thun kann, was man nicht thun darf, sucht man zu verbergen, was man nicht hätte thun sollen. Sobald uns ein Interesse ein Versprechen entlockt, kann uns ein größeres Interesse dazu bewegen, das Versprechen zu brechen. Nun handelt es sich nur noch darum, es straflos zu thun; das Mittel, welches sich dazu darbietet, ist sehr natürlich: man begeht sein Vergehen im Geheimen und lügt. Dadurch, daß wir das Laster nicht zu verhüten vermochten, sind wir nun schon in die Lagegerathen, es bestrafen zu müssen. Das sind die Leiden des menschlichen Lebens, welche gleichzeitig mit den Irrthümern beginnen.
Ich habe schon zur Genüge darauf hingewiesen, daß man über die Kinder keine Strafe als solche verhängen soll, sondern daß dieselbe sie stets als eine Folge ihrer bösen Handlungen ereilen müsse. Ihr dürft deshalb auch nicht gegen die Lüge declamiren, dürft auch nicht lediglich aus dem Grunde die Strafe eintreten lassen, weil eine Lüge ausgesprochen ist; aber ihr müßt es so einrichten, daß alle schlimmen Folgen der Lüge, wie z. B. die, daß man dem Lügner nicht glaubt, selbst wenn er die Wahrheit spricht, daß man ihn einer schlechten That zeiht, trotzdem er sie nicht gethan hat und sich dagegen vertheidigt, über sie hereinbrechen, sobald sie gelogen haben. Indeß bleibt uns noch zu erörtern übrig, was in Bezug auf die Kinder lügen heißt.
Es gibt zwei Arten von Lügen: eine, welche Thatsachen betrifft und damit in die Vergangenheit zurückweist, und eine andere, bei welcher es sich um Versprechungen für die Zukunft handelt. Die erstere findet Statt, wenn man läugnet, das gethan zu haben, was man doch wirklich gethan hat, oder wenn man behauptet, das gethan zu haben, was man eben nicht gethan hat, überhaupt also, wenn man in Betreff bestimmter Thatsachen wissentlich die Unwahrheit sagt. Die letztere dagegen findet Statt, wenn man ein Versprechen abgibt, welches man nicht zu halten beabsichtigt, überhaupt, wenn man eine andere Gesinnung zur Schau trägt, als man wirklich hegt. Beide Arten von Lügen können sich bisweilen in einer und derselben vereinigen [12] , indeß behandele ich sie hier nur in Bezug auf ihre Unterschiede.
Wer das Bedürfniß fremder Hilfe fühlt und unaufhörlich die Beweise des Wohlwollens seiner Umgebung erfährt, hat kein Interesse dieselbe zu täuschen, imGegentheile hat er ein sehr fühlbares Interesse, daß sie die Dinge sieht, wie sie sind, aus Besorgniß, sie könne sich zu seinem Nachtheile täuschen. Es ist demnach klar, daß die Lüge in Bezug auf Thatsachen den Kindern nichts Natürliches ist; sondern das Gesetz des Gehorsams ruft bei ihnen die Notwendigkeit zu lügen hervor. Weil nämlich der Gehorsam etwas Lästiges ist, so sucht man im Geheimen die Fesseln desselben so viel wie möglich abzustreifen. Das nahe liegende Interesse, der Strafe oder einem Verweise zu entgehen, erhält die Oberhand über das entferntere, die Wahrheit zu sagen. Weshalb sollte euch euer Kind bei einer natürlichen und freien Erziehung belügen? Was hat es euch wol zu verbergen? Ihr macht ihm ja keine Vorwürfe, bestraft es nicht, verlangt nichts von ihm. Weshalb sollte es euch nicht Alles, was es gethan hat, mit derselben Offenherzigkeit wie seinem kleinen Spielkameraden sagen können? Bei diesem Geständnisse kann es auf der einen Seite keine größere Gefahr laufen als auf der anderen.
Die Lüge bei Versprechungen ist noch weniger natürlich, weil die Versprechungen etwas zu thun oder etwas zu unterlassen conventionelle Acte sind, welche vom Naturzustande entfernen und die Freiheit schmälern. Ja noch mehr, alle von Kindern eingegangenen Verbindlichkeiten sind an und für sich null und nichtig, da ihr beschränkter Blick nicht über die Gegenwart hinausreicht, und sie folglich bei der Uebernahme von Verpflichtungen gar nicht wissen, was sie thun. Man kann deshalb nicht
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