Emil oder Ueber die Erziehung
füglich den Ausdruck Lüge anwenden, wenn ein Kind sich verpflichtet; denn da es nur darauf sinnt, sich für den Augenblick aus der Verlegenheit zu ziehen, so gilt in seinen Augen jedes Mittel, welches keine augenblickliche Wirkung hervorruft, gleich viel. Indem es ein Versprechen für die Zukunft ablegt, verspricht es im Grunde genommen nichts: seine noch schlummernde Einbildungskraft vermag noch nicht zu fassen, daß es mit seinem Wesen zwei verschiedenen Zeiten angehört. Wenn es der Ruthe entgehen oder eine Zuckerdüte dadurch erlangen könnte, daß es das Versprechen ablegte, sich morgen aus dem Fenster zu stürzen,so würde es keinen Augenblick Bedenken tragen, es zu leisten. Aus diesem Gründe nehmen auch die Gesetze auf die Verbindlichkeiten der Kinder keine Rücksicht, und wenn strengere Väter und Lehrer dieselben dennoch verlangen, so darf sich dies doch nur auf solche Dinge erstrecken, die das Kind auch ohne abgelegtes Versprechen thun müßte.
Da demnach das Kind nicht weiß, was es thut, wenn es eine Verbindlichkeit übernimmt, so kann es auch bei Ablegung eines Versprechens nicht lügen. Etwas Anderes ist es, wenn es sein Versprechen nicht hält, was auch eine Art rückwirkender Lüge ist, denn es erinnert sich seines gegebenen Versprechens sehr wohl. Allein die Wichtigkeit, es zu halten, leuchtet ihm nicht ein. Außer Stande in der Zukunft zu lesen, kann es die Folgen seiner Handlungsweise nicht vorhersehen. Hält es seine Versprechungen nicht, so thut es nichts gegen die Einsicht seines Alters.
Hieraus folgt, daß die Lügen der Kinder allein der Erziehung der Lehrer zuzuschreiben sind, und daß die Anleitung, die man ihnen gibt, nur die Wahrheit zu sagen, eigentlich eine Anleitung zur Lüge ist. Bei dem Eifer, den man entwickelt, sie zu bevormunden, zu leiten, zu unterrichten, findet man nie Mittel genug, um zum Ziele zu gelangen. Man will ihren Geist durch unbegründete Regeln und unvernünftige Vorschriften immer mehr beherrschen, und hält es für besser, daß sie ihre Aufgaben lernen und lügen, als daß sie unwissend und wahr bleiben.
Was uns dagegen betrifft, so unterrichten wir unsere Zöglinge nur auf praktischem Wege und wollen sie lieber zu guten als zu gelehrten Menschen erziehen, wir verlangen nicht ausdrücklich von ihnen Wahrheit, weil wir Besorgniß hegen, sie möchten dieselbe zu umgehen suchen, und nehmen ihnen kein Versprechen ab, das sie sich versucht fühlen könnten nicht zu halten. Wenn in meiner Abwesenheit irgend etwas Unrechtes vorgefallen ist, dessen Thäter ich noch nicht kenne, so werde ich wol auf meiner Hut sein, Emil zu beschuldigen, oder zu ihm zu sagen: »Bist du es gewesen?« [13]
Denn was würde ich damitAnderes thun, als daß ich selbst ihn geradezu zum Läugnen aufforderte? Zwingt mich etwa sein eigensinniger Charakter, mit ihm irgend eine Uebereinkunft abzuschließen, so werde ich meine Maßregeln dergestalt treffen, daß der Vorschlag dazu stets von ihm, nie von mir ausgeht, damit er, sobald er sich einmal zu etwas verpflichtet hat, nun auch stets ein nahe liegendes und fühlbares Interesse habe, seine übernommene Verbindlichkeit zu erfüllen, und damit ferner, wenn er es je verabsäumt, diese Lüge ihm solche Uebel zuzieht, die er aus dem natürlichen Laufe der Dinge selbst hervorgehen sieht und nicht als einen Racheact seines Lehrers betrachten kann. Aber weit davon entfernt, zu so grausamen Mitteln meine Zuflucht zu nehmen, halte ich es fast für eine unumstößliche Gewißheit, daß Emil erst spät lernen wird, was lügen heißt, und daß er nach dieser gewonnenen Einsicht sehr überrascht sein und nicht begreifen wird, wozu das Lügen frommt. Es ist völlig einleuchtend, . daß ich, je unabhängiger ich ihn, sei es nun von dem Willen, sei es von den Urtheilen Anderer mache, desto mehr auch das Interesse am Lügen in ihm ertödte.
Wenn man sich mit dem Unterrichte nicht übereilt, so übereilt man sich auch nicht Anforderungen zu stellen, sondern wartet seine Zeit ab, um nichts Unbilliges zu verlangen. Alsdann geht die Entwickelung des Kindes vor sich, ohne daß es verdorben wird. Wenn aber ein ungeschickter Lehrer, der es nicht zu behandeln versteht, ihm jeden Augenblick bald dieses, bald jenes Versprechen abnimmt, ohne Unterschied, ohne Wahl, ohne Maß, so wird das Kind, gelangweilt und mit solchen Versprechungen förmlich überladen, dieselben vernachlässigen, vergessen, ja sie endlich sogar verabscheuen, und da es sie nun als leere Formeln
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