Emil oder Ueber die Erziehung
verschiedenen Wissenschaften, in denen sie sich zu unterrichten rühmen, hüten sie sich diejenigen auszuwählen, welche den Schülern zu einem wirklichen Nutzen gereichen würden, weil es sich bei diesen um ein sachliches Wissen handelt, was sie ihnen niemals mitzutheilen im Stande sind. Deshalb wählen sie nur solche, mit denen man vertraut zu sein scheint, wenn man sich ihre äußere Terminologie angeeignet hat, als Wappenkunde, Geographie, Chronologie, Sprachen u. s. w., alles Studien, die dem Menschen überhaupt, und nun vorzüglich erst dem Kinde, so fern liegen, daß es ein Wunder wäre, wenn ihnen auch nur ein Gegenstand derselben ein einziges Mal im Leben zum Nutzen gereichte.
Man wird sich wundern, daß ich das Studium der Sprachen in die Zahl der für die Erziehung unnützen Gegenstände rechne. Indeß möge man sich erinnern, daß ich hier nur vom Lernen in dem ersten Lebensalter rede, und was man auch immer sagen möge, so glaube ich nicht, daß, die Wunderkinder natürlich ausgenommen, je ein Kind vor dem Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren wirklich zwei Sprachen gelernt habe.
Ich räume ein, daß das Studium der Sprachen, wenn dasselbe nur in dem Erlernen von Worten, d. h. von einzelnen Wortbildern und Klängen bestände, für die Kinder angemessen wäre; da indeß die Sprachen sich verschiedener Bezeichnungen bedienen, so modificiren sie damit auch zugleichdie Ideen, welche jene ausdrücken. Der Geist bildet sich nach der Sprache; die Gedanken nehmen unwillkürlich die Färbung des Idioms an. Die Vernunft allein ist etwas Gemeinsames, der Geist jeder Sprache prägt sich dagegen in einer besonderen Form aus, eine Verschiedenheit, welche wenigstens theilweise recht wohl die Ursache oder auch die Wirkung der einzelnen Nationalcharaktere sein könnte. Was diese Vermuthung zu bestätigen scheint, ist der Umstand, daß die Sprache bei allen Völkern der Welt dem Wechsel der Sitten folgt und sich in Übereinstimmung mit diesen erhält oder verändert.
Von diesen verschiedenen Formen wird durch den fortwährenden Gebrauch nur eine das ausschließliche Eigenthum des Kindes, und diese allein bewahrt es sich bis zum Alter der Vernunft. Um zwei gleichzeitig zu beherrschen, müßte es die Ideen vergleichen können. Wie sollte es dieselben aber vergleichen, wenn es kaum im Stande ist, sie zu fassen? Jeder Gegenstand kann für das Kind tausend verschiedene Kennzeichen, aber jede Idee nur eine einzige Form haben; es kann demnach auch nur eine Sprache sprechen lernen. Man wird mir einwenden, daß es trotzdem mehrere lernt. Ich stelle dies durchaus in Abrede. Ich habe freilich selbst solche kleine Wunderkinder gesehen, welche fünf oder sechs Sprachen zu sprechen glaubten. Ich habe sie nach einander in lateinischen, französischen und italienischen Ausdrücken – aber immer nur deutsch reden hören. Sie waren in der That in fünf oder sechs Wörterbüchern zu Hause, was sie aber redeten, blieb stets deutsch. Mit einem Worte, gebt den Kindern so viel Synonymen, als euch beliebt; ihr werdet ihnen wol andere Worte beibringen, aber keine andere Sprache; sie werden stets nur eine einzige verstehen.
Um ihre Unfähigkeit nach dieser Richtung hin zu verbergen, treibt man mit ihnen vorzugsweise die todten Sprachen, in denen man jeden Richter im Nothfalle verwerfen kann. Da dieselben schon lange aufgehört haben als Umgangssprachen zu dienen, begnügt man sich mit der Nachahmung der in den auf uns gekommenen Werken ausgebildeten Schriftsprache, und das nennt man dieselbensprechen. Ist nun schon das Griechische und Lateinische der Lehrer so beschaffen, so bilde man sich danach über das der Kinder ein Urtheil. Kaum haben sie die Anfangsgründe, für die ihnen alles Verständniß fehlt, rein mechanisch auswendig gelernt, so richtet man sie ab, ein französisches Gespräch mit lateinischen Worten zu führen; haben sie dann wieder noch einige Fortschritte gemacht, so müssen sie Ciceronianische Redensarten zu Prosa und Bruchstücke des Virgils zu Versen zusammenschweißen. Nun bilden sie sich ein lateinisch zu sprechen, und wer wird sich darauf einlassen, ihnen zu widersprechen?
Bei jedem Studium, wie beschaffen es auch immer sein möge, sind die stellvertretenden Zeichen ohne den Begriff der durch sie dargestellten Dinge bedeutungslos. Dennoch beschränkt man das Kind beständig auf diese Zeichen, ohne ihm jemals auch nur eines der Dinge, welche sie bezeichnen, verständlich machen zu können. Während man es mit der
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